Manche Menschen klagen Jahre später, dass sie erfolgreicher, verliebter, reicher sein könnten, hätten sie damals anders entschieden. Unsere Kolumnistin ist gegen ein Leben im Konjunktiv, mit einer Ausnahme.
Falls Sie entweder Männer in Ihrem Leben haben oder selbst fußballbegeistert sind, dann erinnern Sie sich sicher an diesen Ganzkörperfrust, als "wir" im Juni im Halbfinale gegen Italien verloren und die EM damit für "uns" beendet war. Wütend zerknickte mein Sohn nach dem 1:2 die Deutschlandfahne, die bis dahin vom Balkon flatterte und schmiss den schwarzrotgoldenen Fettstift weg, mit dem er sich vor jedem Deutschlandspiel einen fetten patriotischen Strich auf beide Wangen gemalt hatte. Und ich musste mir gefühlte 987 675 894 Mal in den nächsten Tagen anhören, was Jogi Löw alles falsch gemacht hatte: "Hätte er doch bloß Schweini und Podolski nicht aufgestellt! Und Lahm besser in Schwung gebracht!"
Hätte, würde, sollte, könnte – für mich die schlimmsten Worte der deutschen Sprache. Weil sie so absolut sinnlos, dabei aber voller Wut und Ohnmacht sind. Am ärgerlichsten sind die Momente, bei denen man nur ganz knapp an einem guten Ausgang vorbeigeschrammt ist. Das kann eine Sache von Sekunden sein: das Handy zu lange gesucht, schon sind der Zug und ein wichtiges Meeting verpasst. Die verdächtige SMS nicht gelöscht und schon den dicksten Ehestreit heraufbeschworen, obwohl es nur ein ganz harmloser Flirt war. Doch das sind ja nur die kleinen Stolpersteine, die einem das Schicksal gern mal vor die Füße wirft.
Viel schlimmer, weil für immer zu spät, sind ja diese Augenblicke, in denen man eine falsche Entscheidung trifft, die man nicht mehr zurücknehmen kann. "Ich hab mir mein Leben selbst versaut", seufzt eine Freundin, die vor acht Jahren einer alten Jugendliebe den Laufpass gab, weil er ein arbeitsloser Konzeptkünstler war, sie Kinder und ein bürgerliches Leben wollte. Jetzt hat er eine Galerie, ein Reihenhaus, eine Frau und Zwillinge. "Hätte ich doch einfach abgewartet", zermartert sie sich immer noch.
"Selig ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist"
Ein Kollege von mir sitzt seit 30 Jahren im Rollstuhl, weil er damals seiner blutjungen Freundin erlaubte, mit ihm auf dem Sozius, sein neues Motorrad einzuweihen, obwohl sie kaum Fahrpraxis hatte. "Ein Riesenfehler, aber ich war so verliebt", sagt er. "Hätte ich doch auf Bauchgefühl gehört, dann wäre mir viel erspart geblieben …" Hätte, hätte, Fahrradkette, klingt so niedlich der Spruch, macht aber ganz schlechte Gefühle. "Selig ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist" – auch so eine Weisheit.
Doch wer von uns gehört schon zu diesen Seligen? Bestimmt nicht mein Nachbar. Vor ein paar Wochen war er ein paar Minuten lang der glücklichste Mann der Welt. Am Computer checkte er die Lottozahlen, daneben lag sein Lottozettel. Wow, sechs Richtige plus Zusatzzahl! Gewinn: 5 Millionen Euro! Ein Moment, der schwindelig macht. "Besoffen", sagt mein Nachbar, "Haus mit Pool unter Palmen, Maserati, nie wieder Geldsorgen!" Und dann guckt er noch mal und sieht, dass er nur 5 Richtige hat. Statt 11 hat er 12 getippt, 5000 Euro statt 5 Millionen gewonnen. Gefreut
hat er sich nicht, aber bis heute "hätte ich doch"-mäßig geärgert. Wir sollten ein für allemal sämtliche Konjunktivsätze aus unserem Leben streichen. Bis auf einen: Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …