Muss man immer die Wahrheit sagen? Oder lebt es sich leichter nach dem Motto: Was der andere nicht weiß, macht ihn nicht heiß? Kommt drauf an, findet unsere Kolumnistin.
Natürlich ist Ehrlichkeit das Wichtigste. Der Satz kommt mir ganz leicht über die Lippen, wenn ich gerade entspannt und ohne größere Katastrophen durchs Leben gleite. Weil ich bei der Steuererklärung sowieso nicht schummeln kann und mir der attraktive Fremde, der mich in der Hotelbar so nett anlächelt, kein unsittliches Angebot macht, sondern mich nur darauf hinweisen will, dass ich aus Versehen seinen Wein ausgetrunken habe. Kein Problem, die moralische Weste auf Hochglanz zu polieren, wenn mich nichts vom Tugendpfad lockt.
Tja, und dann bin ich mit meiner Tochter beim Einkaufen, schwer bepackt gehen wir zum Auto, verstauen die Beute im Kofferraum und auf einmal rutscht ein Kaschmirpullover auf die Straße. Genau der, den ich im Laden anprobiert und zur Kasse getragen habe, um dann, als ich den Preis hörte – 348 Euro –, enttäuscht einen Rückzieher zu machen. Und jetzt liegt er mir zu Füßen. Was will mir das Schicksal denn da ins Ohr flüstern?
Ist die Ehrliche wirklich die Dumme? Ich hoffe nicht.
"Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht", hat Oscar Wilde gesagt. Wie recht er doch hatte, denke ich, als ich die weiche Wolle anfasse. In warmem Zyklam, meiner Lieblingsfarbe. Und ich gestehe, wären da nicht die aufmerksamen Augen meiner Tochter, wer weiß? "So was ist mir noch nie passiert", sagt die Verkäuferin, als ich den Pullover zurückgebe. "Ganz schön blöd", meint kurz darauf meine Tochter, "niemand hätte was gemerkt." Ist die Ehrliche wirklich die Dumme? Ich hoffe nicht. Ich weiß nur, dass es mich ein klitzekleines bisschen stolz macht, aus diesem moralischen Dilemma als Siegerin hervorgegangen zu sein. Besonders weil meine Tochter mich dabei beobachtet hat. Auch wenn sie es blöd findet und ich jetzt vermutlich nie in meinem Leben etwas Achtfädriges aus Kaschmir tragen werde – manchmal fallen richtige Entscheidungen ganz leicht.
Viel schwieriger wird es, als ich beim Joggen zufällig den Mann meiner besten Freundin sehe, wie er eine andere Frau küsst, drei Tage nach ihrem 20. Hochzeitstag, den wir sehr fröhlich feierten. "Wir haben immer noch guten Sex", sagte meine Freundin in der Küche, "ist das nicht unglaublich? Wenn er nur nicht so faul und schlampig wäre."
Ich habe also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sage ich was, wird es ihr das Herz brechen. Sage ich nichts, wird sie mir irgendwann die Freundschaft kündigen. Ein richtig fieses Dilemma, das mich schlaflose Nächte kostet. "Ist irgendwas?", fragt meine Freundin, nachdem ich mich ein paar Tage nicht gemeldet habe. "Bist du sauer auf mich?" Plötzlich weiß ich, was ich tun muss. Ich rufe ihren Mann an: "Ich hab dich gesehen. Was Ernstes?" – "Oh Gott, nein", stottert er, "ein einmaliger Ausrutscher, hat nichts zu bedeuten, bitte glaub mir." – "Du stehst ab jetzt unter Beobachtung, guter Freund", sage ich und wähle die Nummer meiner Freundin.
Wir plaudern, lachen, es ist wie immer. "Sag mal, hat dein Mann eigentlich seit eurem Wasserschaden den Keller aufgeräumt?" Natürlich nicht. Also rufe ich ihn an. Es hätte schlimmer kommen können.
P. S. Der Keller meiner Freundin ist jetzt picobello.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …