Der Arbeit wird heute vieles geopfert - Zeit, Familie oder Freunde. Wie man den Blick fürs Wesentliche nicht verliert, erklärt Catharina Aanderud in ihrer Kolumne.
Es gibt eine neue, weltumspannende Religion, die immer mehr Anhänger findet, der wir mit großem Eifer und Einsatz huldigen, der wir alles unterordnen. Ja, es käme uns kaum der Gedanke, dass es etwas Wichtigeres geben könne als sie. Auf ihrem Altar opfern wir unsere Beziehungen, unsere familiären Bindungen, unsere Gesundheit und unsere innere Freiheit.
Arbeit ist die neue Religion
Von welcher Religion die Rede ist? Von der Religion der Arbeit natürlich, deren Siegeszug unaufhaltsam scheint. So unaufhaltsam, dass es kaum möglich ist, ein Leben zu denken, bei dem die Arbeit nicht den höchsten Stellenwert einnimmt.
Religion bedeutet im Kern, sich etwas zu unterwerfen, was höher ist als man selbst. Vermutlich suchen wir in der Arbeit auch die verloren gegangenen religiösen Bindungen. Wir arbeiten, um unsere Existenz zu begründen, und zwar nicht nur materiell, sondern in zunehmendem Maße auch spirituell.
Von Arbeit versprechen wir uns Sinn und Erfüllung
Damit verlagert sich das, was früher einmal äußerer Zwang und Fron war, zunehmend nach innen: Wir verschmelzen immer mehr mit unserer Arbeit, identifizieren uns immer stärker mit ihr und geben aus dieser verinnerlichten Leistungsbereitschaft heraus alles für sie – weil wir hoffen, alles von ihr zu bekommen: Sinn und Erfüllung, ein äußeres und inneres Korsett, Orientierung und Struktur für den Tag, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Status und, vielleicht am wichtigsten: soziale Kontakte und Gemeinschaft. Das Gespenst der Arbeits- und damit Sinnlosigkeit vor Augen akzeptieren wir hohen Zeit- und Leistungsdruck, ständige Erreichbarkeit, entwürdigende Arbeitsbedingungen.
Ohne Arbeit fühlen wir uns wertlos
Arbeit ist zu einem derart bestimmenden Faktor unseres Lebens geworden, dass wir uns ohne sie wertlos fühlen. Schließlich sind wir von klein auf an daran gewöhnt worden, Liebe für Leistung zu bekommen. Denn im Endeffekt – und diese Botschaft wird spätestens in der Schule vermittelt – geht es darum, sich mit exzellenten Leistungen in einer Welt globaler Konkurrenz zu behaupten. Wir gehen also zur Schule, um arbeiten, ja, überleben zu lernen.
Führt Arbeit in seelische Leere?
Bei immer mehr Menschen dient exzessive Arbeit als Fluchtpunkt vor seelischer Leere – und droht doch gleichzeitig in eben diese zu führen. Dann nämlich, wenn der Stress und die Einseitigkeit zu groß wird und in den Burnout mündet, wo dann nichts mehr geht. "Ohne meine Arbeit und die Struktur, die sie mir gibt, würde ich wahrscheinlich depressiv", bekennt eine Ärztin. "Wohlgemerkt, ich liebe meinen Beruf und die vielen verschiedenen Menschen, mit denen ich durch sie in Kontakt komme. Aber ich bin abends immer öfter total leer und erschöpft. Aus diesem Zustand rettet mich dann wiederum nur meine Arbeit."
Das Leben bietet mehr als nur Arbeit
Unser verinnerlichter Arbeitszwang – oft für Tätigkeiten, die uns eigentlich gleichgültig sind – bedeutet Fremdbestimmung und erzeugt Leiden. Wenn wir alle unsere Bedürfnisse nach Erfüllung, Kommunikation und Anerkennung einseitig auf die Arbeit konzentrieren, kann uns der Sinn für das ganze Leben, das immer mehr ist als das Arbeitsleben, abhanden kommen – und wir werden lustlos und erpressbar. Darüber hinaus werden so alle nicht bezahlten Tätigkeiten entwertet, was in einem Zirkelschluss wieder zu einer erhöhten Konzentration auf die Arbeit führt. Wir gewinnen dann nur noch bezahlten Tätigkeiten etwas ab, was die Ökonomisierung der Gesellschaft weiter voran treibt.
Religion der Arbeit
Multitasking, Optimierungszwänge und ständige Erreichbarkeit sorgen bei vielen Menschen für eine Art Dauerstress, aus dem es selbst im Urlaub kaum noch Erholung gibt. Wir takten unsere Freizeit inzwischen ebenso wie unsere Arbeit und bemühen uns, auch im konkurrierenden Vergleich zu anderen, sie optimal und möglichst effektiv, also möglichst arbeitsähnlich zu gestalten.
Doch wer seinen Sinnhorizont nur in seiner Arbeit sieht, lebt gefährlich. Denn um sich und sein Leben als sinnvoll zu erleben, muss er schnellstmöglich zurück ins Hamsterrad.
Den Blick fürs Wesentliche wahren
In dieser Eindimensionalität verpasst er jedoch etwas Essentielles, worum es im Menschsein geht.
Wer bin ich? Was tue ich hier? Wo gehöre ich hin? Welches ist meine Gemeinschaft? All diese einst religiösen oder philosophischen Fragen werden heute von der Arbeit beantwortet, die zwar keine Religion ist, jedoch in ihrer Selbstüberhöhung alle Merkmale eines Glaubenssystems trägt - eine unzulässige Anmaßung, die es zurecht zu rücken gilt.
Den Mut zur Selbstverwirklichung haben
Der US-Ökonom Jeremy Rifkin schlägt hierfür den "Sterbebett-Test", wie er es nennt, vor: "Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, sagen wir da: Ich hätte mehr Stunden auf der Arbeit zubringen sollen? Vermutlich nicht!" Tatsächlich bedauern Sterbende eher, dass sie zu viel gearbeitet haben und nicht den Mut hatten, ihre Wünsche zu verwirklichen und ihr Leben stärker zu gestalten. Und vor allem: dass sie zu wenig Zeit für Familie und Freunde hatten.
Muße als Ausweg
Was tun? In der Antike wurde die Muße als Gegenpol des rastlosen Tuns betrachtet. Muße bedeutet ruhig zu werden, inne zu halten und ohne Zeitdruck in einer selbstgewählten Tätigkeit aufzugehen, sie um ihrer selbst willen auszuführen. Um fähig zu sein, das Leben zu genießen, auch um schöpferisch tätig zu sein, brauchen wir diese Haltung der Muße.
Dabei geht es nicht um unser Tun, sondern vielmehr um unser Sein, um die bewusst empfundene Freude darüber, am Leben zu sein! Und um die innere Gewissheit, dass wir wertvoll sind – auch unabhängig von irgendwelchen Leistungen, die wir erbringen. Um das Erleben des Augenblicks in all seinen Facetten. Warum fällt uns das so schwer? Weil bloßes Dasein verpönt, ja, tabuisiert ist in einer Gesellschaft, die rastlose Arbeit und ständige Aktivität zu ihrer Religion erhoben hat, jedoch keine wirkliche Lösung für das Thema unserer Vergänglichkeit hat.
Lebensfreude entwickeln
"Wenn wir nicht achtsam sind, dann vergessen wir unser Mensch-Sein und beschränken uns auf unser Mensch-Tun", so Jon Kabal-Zinn, der Erfinder des modernen Achtsamkeitstrainings, das sich nicht ohne Grund wachsender Popularität erfreut. "Und dabei vergessen wir, wer dem Tun zugrunde liegt und warum wir überhaupt etwas tun." Durch Achtsamkeit für den Moment kommen wir vom Modus des rastlosen Tuns zu einem Modus des Seins. Dann können wir vielleicht etwas spielerischer werden und eine gewisse "Leichtigkeit des Seins" und Lebensfreude entwickeln – eben genau das, was wir bei Menschen in Ländern, die mit weniger Wohlstand und Arbeitseifer leben, oft so unglaublich faszinierend finden!
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