Als Chefanklägerin des UNO-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag war Carla Del Ponte das Gesicht der internationalen Justiz. Heute ist die Tessinerin pensioniert und findet es eine richtige Herausforderung, gut Golf zu spielen.
EMOTION: Sie waren die mächtigste Strafrechtlerin der Welt. Sind Sie zufrieden mit sich, wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken?
Carla Del Ponte: Ich hatte 1999 eine ganze Woche lang Zeit, um mich zu entscheiden, ob ich Chefanklägerin bei der UNO werden wollte. Hätte ich damals gewusst, wie viele Herausforderungen auf mich zukommen würden, hätte ich vielleicht Nein gesagt – und den Entscheid mein Leben lang bedauert. Heute kann ich sagen: Es war eine fantastische Aufgabe.
Was war Ihre grösste berufliche Enttäuschung?
Der Tod von Slobodan Milosevic in seiner Zelle, kurz bevor das Internationale Kriegsverbrechertribunal ihn verurteilen konnte. Da hatten wir die Beweise fast zusammen, hiel- ten ihn unter strenger medizinischer Aufsicht – und dann stirbt er. Ich war zutiefst enttäuscht. Heute bin ich aber milder. Es war vielleicht gut, dass er auf diese Weise gestorben ist.
Was hat Sie in all den Jahren am meisten bewegt?
Die Begegnung mit den Frauen von Srebrenica. Ihre Männer, Söhne und Brüder befanden sich unter den 7000 Muslimen, die beim Massaker ermordet wurden. Der Sicherheitsdienst wollte zuerst nur drei oder vier der Frauen in den Gerichtssaal lassen. Dagegen wehrte ich mich. Ich stand an der Tür und habe etwa 300 Frauen die Hand gegeben und ihnen eine Stunde lang zugehört. "Sie müssen Milosevic vor Gericht bringen", lautete ihre eindringliche Botschaft. Ich spürte ihr Leid und wie grausam es sein musste, die Gesichter seiner Liebsten lebendig in sich zu tragen und gleichzeitig zu wissen, dass nicht einmal deren Leichen gefunden worden waren.
Gab es dabei so etwas wie einen Aha-Moment?
Ich spürte, dass ich als Chefanklägerin für diese Opfer ein Symbol der Gerechtigkeit war. Die Begegnung mit ihnen hat mich sehr demütig gemacht. Ich fühlte eine grosse Verantwortung und zugleich eine grosse Motivation, diese wahrzunehmen.
Sie bekämpften in Ihrer beruflichen Laufbahn auch Geldwäscherei, Drogenkartelle und Wirtschaftskriminalität. Was trieb Sie in all den Jahren an?
Ich wollte die Kultur der Straflosigkeit attackieren. Die Frauen und Männer in der Justiz hinterfragen immer wieder die Annahme, dass Macht auch Recht bedeutet. Sie schreien Ja, wenn alle Nein singen, sie haben keine Angst, gegen den Strom zu schwimmen und sich lächerlich zu machen. Ich bin froh, dass ich meinen Beitrag leisten durfte.
Woher rührt Ihr Sinn für Gerechtigkeit?
Von meiner Überzeugung, dass ich recht habe und mich auf das Gesetz stützen kann. Und von meiner Mutter, einer stolzen und frei denkenden Frau. Bleib dir immer treu und stehe zu deinen Taten, lautete ihre Lektion. Wenn ich als Chefanklägerin unter Druck kam oder Kritik einstecken musste, haben mir die Worte meiner Mutter stets Kraft gegeben.
Sie wuchsen mit drei Brüdern auf. Lernt man da zu kämpfen?
Vielleicht, ich musste mich als Mädchen ständig gegen sie durchsetzen, um beim Fischen, Schlangenjagen und Baumklettern mitmachen zu dürfen. Vielleicht hat meine unbeschwerte Jugend mir das Gleichgewicht gegeben, um später das Schlechte zu bekämpfen. Wie auch immer: In einem herausfordernden Job muss man jeden Tag kämpfen, um etwas zu erreichen. Insofern habe ich einfach nur meine Arbeit gemacht.
Was macht eine pensionierte Chefanklägerin den ganzen Tag?
Ich versuche, mein Handicap beim Golfspielen zu verbessern. Das fällt mir nicht leicht. Als Chefanklägerin kann man auf seine langjährige Erfahrung bauen und Fehler vermeiden. Beim Golfspielen kann es jeden Tag schlecht laufen. Das bringt mich hin und wieder in Rage.
Carla Del Ponte, 65, war Chefanklägerin der Internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Ex- Jugoslawien. Sie hat diverse Bücher geschrieben, im aktuellsten, dem Hörbuch "erlebt & erinnert", erzählt sie auch von ihrer Kindheit im Maggiatal.