Wenn man von Klausen aus, das ist ein kleines Städtchen zwischen Brixen und Bozen, den "Wanderweg 5" nimmt, dann kommt man an einem besonderen Platz vorbei.
Dort, wo der berühmte Maler Albrecht Dürer einst gestanden hat. Denn während seiner ersten Italienreise im Jahre 1494 sind hier die Zeichnungen zu dem Kupferstich "Nemesis (Das große Glück)" entstanden. Und tatsächlich kann man die charakteristischen Bauten auch jetzt noch – mehr als 500 Jahre später – gut erkennen: die Kirche, die Burg Branzoll und das Kloster Säben, das etwas weiter oben liegt.
Über dem Ort ließ der Maler die Göttin Nemesis – sie steht für den gerechten Zorn, was immer das auch heißen mag – schweben, und zwar auf einer Kugel, die das Glück symbolisiert. Das alles kann man auf einer Tafel nachlesen, die diesen Aussichtspunkt markiert. Und auch, was der Maler damit darstellen wollte. Nämlich die Schwierigkeit, im Moment des Glücks die Balance zu halten.
Auf dem Weg zurück ins Tal bin ich nachdenklich. Ist das unser Problem? Können wir Glück deshalb oft nur einen Moment lang erfahren, weil kurz danach das Gleichgewicht nicht mehr stimmt. Aber was genau gerät da aus dem Lot?
Das Glück festhalten, das könne man nicht, heißt es immer wieder. Dabei würden wir nichts lieber tun. Und manchmal strengt man sich ja auch wirklich an – und trotzdem, oder gerade deshalb, scheitern wir. Wann war ich das letzte Mal so richtig glücklich? Zum Beispiel auf meiner Wanderung zur Seiser Alm. Als ich da oben saß: allein, erschöpft und gleichzeitig erfüllt von dem Anblick der Natur und von der Ruhe, die sich in mir ausbreitete. So erfüllt, dass es keinen Platz für anderes gab.
Selbstvergessen, könnte man dieses Gefühl nennen. Das Ego hatte sich verabschiedet, aber leider, wie immer, nur kurz. Und sobald es zurückkam, meldet sich auch diese nervige innere Stimme wieder: Hättest du nicht etwas schneller sein können? Brauchtest Du wirklich zwei Pausen? Und: Hätte nicht eigentlich dein Freund mitkommen müssen, damit es wirklich schön geworden wäre? Zack war die Balance weg.
Zwei Tage später lag ich an einem kleinen See, unterhalb des Gasthauses Lobishof bei Oberbozen. Nach zwei Bauernkrapfen – der eine mit Mohn, der andere mit Erdbeermarmelade – döste ich ein bisschen vor mich hin. Das Wasser plätscherte, es summte in der Luft, die nach wilden Kräutern duftete – und da spürte ich sie wieder, diese herrliche Gedankenlosigkeit, die mich so leicht macht und gleichzeitig so tief fühlen lässt. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem. Ein und aus. Auf meine sonnenwarme Haut und dann auf die Grashalme, die im leichten Wind hin und her wippten. Diesmal konnte ich den Moment der Zufriedenheit ausdehnen – und länger genießen als sonst. Und vielleicht ist das auch ein Geheimnis von Glück, dass man sich die Zeit nimmt, es zu üben.