Verena Richter auf den Spuren der Schenna Waalwege - ein Kulturgut Südtirols.
Heute wandere ich den Schenna Waalweg entlang. Nein, kein Rechtschreibfehler. Waale mit Doppel-A sind Kanäle, die in Südtirol den Sommer über Reben, Felder und Obstbaumwiesen bewässern. Die ersten stammen bereits aus dem 12. Jahrhundert. Und damit man sie reparieren und sauber halten konnte, wurden schmale Pfade entlang ihres Verlaufs angelegt – heute beliebte Wanderwege, besonders im Frühling, wenn sich von den Hängen bis in die Täler ein Meer aus Apfelblüten erstreckt.
Vor ein paar Wochen plätscherte und gurgelte es in den Kanälen noch nicht. Denn während des Winters werden die Zuflüsse der Bäche verschlossen. Erst am 19. März, dem sogenannten Josefitag, öffnet man die Schranken. Was soviel bedeutet wie: Der Frühling ist wieder da.
Wurzeln im weichen Waldboden führen wie Stufen zu einem Wasserfall hinab. Im Schatten der Bäume entdecke ich weiße Anemonen. Der Waal verläuft links von mir, verschwindet für ein paar Meter unter der Erde, um dann wieder aufzutauchen und mich, noch ein paar Meter weiter, durch sanft absteigende Wiesen zu begleiten. Ab und dann kommen mir Familien entgegen. Unglaublich, wie geländegängig diese Kinderwagen sind! Auch den Kleinen, die nicht gefahren oder getragen werden, scheint der Ausflug Freude zubereiten. Ganz anders als meinem Bruder und mir früher, als meine Eltern uns auf die Berge locken wollten. "Nein, langweilig fand ich solche Familienausflüge nie", hat mir vor ein paar Tagen eine junge Winzerin erzählt. "Die gehörten einfach dazu! Und ganz ehrlich, Waalwege sind ja keine Wanderungen, das sind Spaziergänge." Da bin ich als Stadtmensch und nach anderthalb Stunden Fußweg natürlich etwas anderer Meinung.
Mir gefällt es, dass in Südtirol der Wechsel der Jahreszeiten so sehr in das familiäre und gesellschaftliche Leben integriert ist. Es gibt die Löwenzahnwochen, das Apfelblütenfest und zur Sonnenwende leuchten Feuer auf den Bergen. Ende August wird der Almabtrieb gefeiert und im Herbst erwandert man einen Teil des Kastanienwegs – er reicht von Vahrn bis Bozen– und isst in den Buschenschänken geröstete Keschten, das ist Südtirolerisch für Maroni.
Wer so sehr im Rhythmus der Natur lebt, muss sich garantiert nicht von der Marktfrau anhören, dass es für guten Spargel noch zu früh ist, er weiß es selbst. Und ich werde bestimmt auch niemandem erzählen, dass ich letztes Jahr, als ich endlich Zeit und Lust hatte, einen Rhabarberkuchen zu backen, feststellen musste, dass es keinen Rhabarber mehr gab.
Inzwischen sehe ich unter mir das Dörfchen Schenna liegen. Umwölkt von pastellfarbenen Tupfen. Auf den insgesamt 300 Hektar Obstwiesen der Gemeinde stehen über 750 000 Bäume. Aber bis der Golden Delicious oder die Pink Lady geerntet werden können, wird sich die Landschaft nach oft verändern, sich erst in dunkles Grün, dann in gelbes und rotes Laub kleiden. Wieder führt der Weg hinein, zwischen die Bäume, die wie Weinreben an Holzstangen festgebunden sind. Und nun erreiche ich den schönsten Aussichtsplatz des Waalweges: eine Bank mit Blick auf Sankt Georgen, einem Ortsteil von Schenna. Dahinter: die Texel-Gruppe, deren Gipfel noch ein wenig mit Schnee bestäubt sind. Ein Weiß, das von den Apfelblüten im Tal unendliche Male widergespiegelt – und dem Sommer bald ganz und gar weichen wird.