Es ist nur Glück, auf welcher Seite man geboren wurde. In Europa oder Asien, Frau oder Mann, arm oder reich – nichts als Glück.
Es ist der 1. Januar 2015. Ein ganz gewöhnlicher Tag in Istanbul.
Ich stehe an der Hafenmauer von Karaköy und schaue auf die Brücke. Die Galatabrücke überspannt das Goldene Horn. Am anderen Ufer liegt das historische Viertel Eminönü. Zwar noch kein asiatischer Boden, dennoch ist sie Sinnbild der Gegensätze der prächtigen Stadt am Bosporus – zwischen Orient und Okzident.
Prächtig ist Istanbul heute eher wegen seiner Größe und der Mentalität seiner Einwohner. Die prunkvollen Denkmäler der osmanischen Zeit thronen noch immer an alter Stelle. Doch der Glanz von damals ist Erinnerung. Überreste stolzer Villen neben nackten Plattenbauten – Modernität sieht nicht immer schön aus. Doch die Hoffnung und die Lebenslust der jungen Türken vibrieren in den Gassen.
Istanbul hat viele Gesichter. In die ernsten und müden schaue ich auf der Brücke. Es sind die Augen der Angler, die aufgereiht wie eine Perlenkette dastehen. Jede Sekunde wird irgendwo eine Sardine rausgezogen, der Nebenmann schneidet dem Fang den Kopf ab, der Nächste telefoniert wild gestikulierend, der Eine schimpft lautstark, der Andere knurrt leise in seinen Mantel. Muse sieht anders aus. Dennoch hat diese Brücke für mich eine Art Magie. Ob die Angler das auch so empfinden?
In diesem Moment erscheint ein Mann mit riesigem Tablett, auf dem zarte Teegläser und Zucker liegen. Er zieht seine Runde und schenkt heißen Chai aus. Alle schenken ihm ein Lächeln. Alle finden Zeit, auch wenn die Angelschnur schon wieder spannt und das nächste Fischlein zappelt. Da ist sie, die Muse. Auch wenn sie nur drei Schlucke Tee dauert. Ich bin Zuschauer. Es ist eben einfach nur Glück, auf welcher Seite man geboren wurde.
Sinah Müller ist seit September als Praktikantin bei EMOTION dabei. Sie reist gerne – auch alleine. Dabei stellt sie immer wieder fest, wie schön die Zeit nur für sich ist. Sie könnte stundenlang in Cafés sitzen, am liebsten an der frischen Luft. Außerdem findet sie Yoga und lachende Mitmenschen großartig.