Eine neue These über gutes Essverhalten geht davon aus, dass nur das, was zu unserem Charakter passt, satt und gesund macht. Unsere Autorin hat das mal überprüft...
Essen und Persönlichkeit: "Du isst, wie du bist!"
Essen, darüber weiß ich alles. Also über mein Essverhalten. Was, warum, wie viel und wann ich esse. Was gut ist und was schlecht. Wann ich was brauche und warum: bei Stress, als Belohnung, zum Trost. Seit Jahren beschäftige ich mich mit kaum einem Thema so sehr wie mit diesem. Ich habe Diäten angefangen (und meist schon an Tag eins vermasselt), eine Ernährungsberatung gemacht (und 400 Euro versenkt), mich hypnotisieren lassen und es mit Fasten versucht (klappte nur im Urlaub). Woran das nichts geändert hat: Ich bin zuckersüchtig, besonders bei Stress, esse zu schnell und unregelmäßig, futtere die Reste vom Kinderteller, weil ich nichts wegwerfen kann. Ich werde jedes Jahr ein Kilo schwerer, fühle mich nicht gesund mit dem, was ich esse, und schäme mich, weil ich den Gegner – Kuchen, Pasta, Schokolade – niemals niederringen kann.
Dein Essverhalten ist meist nur ein Ventil für das, was in dir passiert.
Kathrin Vergin, Autorin von "Das Emotional Eating Tagebuch"Tweet
Wenn Diäten nichts bringen
Deshalb stürze ich mich auf das Buch von Kathrin Vergin wie auf einen frischen Hefezopf: "Das Emotional Eating Tagebuch. Lerne, dein Essverhalten besser zu verstehen und zu steuern". Vergin ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Coachin und hat einen Doktor in onkologischer Chemie (Fachgebiet: Onkologie und Ernährung). Ihr Buch ist eingängig geschrieben, denn Vergin ist nicht nur Fachfrau, sondern auch Betroffene. Sie hat mal 25 Kilo mehr gewogen, angefuttert aus Stress, Zeitmangel, Leistungsdruck. Als sie erkannte, dass ihr keine Diät, sondern nur eine Verhaltensänderung helfen würde, zog sie die Reißleine – und ging allein den Jakobsweg. Ihr Buch hilft nun, auch zu Hause das eigene Verhalten zu erkennen und zu ändern.
Das Emotional Eating Tagebuch
Tagebuch schreiben ist ein Mittel dabei, es wird in vielen Bereichen therapeutisch eingesetzt (z. B. bei Depressionen, Ängsten, Schmerz) und eben auch, um bestimmte Ziele zu erreichen. Der Trick ist, sich über einen längeren Zeitraum bewusst zu machen, was passiert und es in Worte zu fassen. Danach soll man in kleinen Schritten etwas verändern und das ebenfalls dokumentieren. So können nach und nach Denk- und Verhaltensmuster, die teils seit der Kindheit bestehen, aufgelöst und durch passendere ersetzt werden. Kathrin Vergin sagt: "Dein Essverhalten ist meist nur ein Ventil für das, was in dir passiert. Schau genau hin."
Schritt 1: Bewusst machen, was passiert
Jeden Tag schreibe ich nun auf, was ich esse, wie viel und wann. Wie viel Sport ich treibe, wie viel ich trinke und vor allem: wie es mir dabei geht. Ich soll Gefühle ankreuzen und notieren, was mir auffällt. Zunächst ist da nichts Neues: Nudeln trösten mich, ich esse schnell und unaufmerksam, notfalls am Schreibtisch, und Zucker hilft durch das Energietief am Nachmittag. Und wenn ich nach Hause komme, erschöpft und oft frustriert, mache ich, noch im Mantel, den Kühlschrank auf. Typisch bei Stress, diagnostiziert Kathrin Vergin. "Das Gehirn braucht fast 20 Prozent unserer Grundkalorien, deshalb kostet auch ein reiner Arbeitstag mit hoher Konzentration viel Energie. Wenn noch negative Gefühle dazukommen, ist das ultraanstrengend, insbesondere über einen längeren Zeitraum, denn auch der Umgang damit kostet Energie."
Was tue ich mit Gutes – außer Essen?
Okay, aber der Stress von Job plus Familie lässt sich ja nicht vom Teller schieben wie ein Rest Kartoffelpüree. Zumal mir selbst das sehr schwerfällt. Seltsame Dinge fallen mir da auf: Ich koche immer selbst, obwohl ich wenig Zeit habe. Ich kann keine Reste wegwerfen, es ist wie ein inneres Verbot – wo kommt das her? Und geschockt stelle ich fest, dass ich bei „Was habe ich heute Gutes für mich getan, was nichts mit Essen zu tun hatte?“ nur ein einziges Mal etwas eingetragen habe.
Ist Essen meine einzige Freude? Wieso gelingt es mir nicht, mein Essverhalten – ab Nachmittag gerät alles außer Kontrolle – mit Disziplin und Vernunft zu verändern? Die helfen mir doch sonst.
Schritt 2: Die eigene Persönlichkeit kennenlernen
Nun kommt der zweite Teil von Kathrin Vergins Methode ins Spiel: ein Online-Test mit Persönlichkeitsfragen, einfach mit "Ja/Nein" oder Multiple Choice zu beantworten, der die "Personal Life Drivers" entschlüsseln soll. Vergin sagt: "Wir decodieren deine Persönlichkeit und finden heraus, welche Dinge du besonders brauchst und wie du sie mit Essen ausgleichst, wenn du sie nicht erfüllt bekommst. Dafür ist das Tagebuch da, und ich lege das dann mit deinen Bedürfnissen zusammen. Das ist das sogenannte Flow-Modell: Du hast bestimmte Charaktereigenschaften und Fähigkeiten. Es geht darum, nicht an den Schwächen herumzudoktern, sondern darum, das, was du mitbringst, so zu potenzieren, dass du in den Flow kommst."
"Der Test soll helfen, meine Bedürfnisse anders zu stillen als mit Kuchen"
Die Flow-Theorie geht davon aus, dass Mensch und Aufgabe zueinander passen müssen – nur das ermöglicht ein Gefühl von Flow, das in der Mitte zwischen Langeweile und Überforderung liegt. "Es wäre dumm, einen Menschen, der ein hohes Bedürfnis nach Bequemlichkeit hat, dreimal wöchentlich mit Sport zu quälen. Den muss ich mit etwas anderem motivieren." Ich erledige den Test in zehn Minuten. Er soll helfen, meine Bedürfnisse zu erkennen und anders zu stillen als mit Kuchen.
Schritt 3: Bedürfnisse erkennen und ernst nehmen
Vergin hat dafür das Bild einer Batterie gefunden. Oben stehen die stärksten Bedürfnisse, unten die, die nicht so dringend bedient werden müssen. Ich bin gespannt und muss lachen, als ich lese, was mein stärkstes Bedürfnis ist: "Genuss" steht da. "Das ist der erste Kanal, den du ansteuerst", erklärt Vergin. "Und weil du versuchst, den Genuss so lange es geht aufrechtzuerhalten, definierst du das manchmal über die Menge." Ich fühle mich ertappt: zu schnell, zu viel. Was aber noch erhellender ist: "Je mehr du in eine Struktur gezwungen wirst, die dir wenig Raum für Genuss gibt, desto höher wird dein Essensdrang." Im Tagebuch habe ich auf die Frage, was helfen würde, mein Essverhalten zu verbessern, mehrfach geantwortet: Mehr Zeit! Mehr Pausen!
"Welchen Genuss gönne ich mir stattdessen?"
Nun folgt mein zweiter Treiber: "Werterhalt". Das bedeutet, dass ich versuche, alles bestmöglich zu verwerten. Deshalb also kann ich nichts wegwerfen! Zusammen ergeben diese beiden "Treiber" schon eine kleine Ess-Strategie. Vergin: "Du darfst nicht irgendwas essen, sonst trittst du deinen Genussanspruch mit Füßen. Du solltest den Qualitätsgedanken im Essen zelebrieren!" Und: "Du solltest die Sinnlichkeit in anderen Dingen suchen." Klingt passgenauer als der Rat, den ich schon öfter bekam: Gönn dir doch was Schönes. Kleid statt Kuchen, das hat bei mir nie funktioniert. Doch Kaffee und Zeitung auf der Terrasse statt Kuchen, das klingt deutlich attraktiver. Ich sollte mich also nicht fragen: "Wie kann ich mich vom Genuss ablenken?", sondern: "Welchen Genuss gönne ich mir stattdessen?"
Insgesamt 16 Werte tauchen in Vergins Batterie auf, ich bin verblüfft, wie gut sie mich nachzeichnen: Da sind Idealismus, Führung, Aktivität und Naturverbundenheit sowie – tatsächlich – Askese. Das bedeutet in etwa: Ich setze mich ein für positive Veränderungen. Ich kann mich selbst führen und mag keine strikten Vorgaben. Ich bin umsetzungsstark und probiere gern was aus. Die Natur ist eine Ressource für mich. Ich kann gut auch mal verzichten.
Mehr Genuss, weniger Zwang
Mit jeder Eigenschaft entsteht ein Bild von mir und ein eigener Weg, den ich einschlagen kann, um mein Essverhalten in Übereinstimmung mit mir selbst zu bringen. Wobei: Ich kann mich selbst führen? Wie oft habe ich das versucht und bin gescheitert. Vergin hat eine Erklärung: Mein Ziel – Essen kontrollieren – ist zu groß. "Probier kleine Schritte. Sieh es als deine Spielwiese." Ich schaue mir mein Tagebuch noch mal genau an: Was fehlt mir am meisten? Was stresst mich? Mein erster Schritt: "Ich brauche jeden Tag eine Stunde Mittagspause mit gutem Essen." Mehr Genuss, weniger Zwang. Fühlt sich gut an, und das schon seit drei Wochen. So lange habe ich noch nie durchgehalten.
Kathrin Vergin bietet Einzel- oder Firmenberatungen an, auch online. Über Events und Vorträge informiert ihr Newsletter.
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