Mit anderen über Sex zu sprechen befreit, weil klar wird: Es gibt kein Richtig oder Falsch
Ein Experiment: Was passiert, wenn eine Gruppe von Frauen zwischen 22 und 49 Jahren, die sich nicht gut kennen, zusammenkommen, um über ihr Sexleben zu sprechen? Erkenntnis: Auch wenn es anfangs Überwindung gekostet hat, kamen sich alle sehr schnell sehr nah. Vertrauen wird mit Vertrauen belohnt.
Redet ihr viel über Sex?
Jule, 22: Ja, schon. Neulich kam eine Freundin von mir wieder mit ihrem Ex zusammen und dann habe ich natürlich auch gefragt: Und, ist der Sex jetzt anders? Das gehört bei uns zu einem normalen Gespräch.
Marie: Mein eigenes Sexleben ist total unaufregend, aber weil ich grundsätzlich aufgeschlossen bin, kriege ich alles über Dreier, Fetischpartys etc. von meinen Freundinnen erzählt.
Anja: Echt? Bei mir ist das gar kein Thema. Ich hab das Gefühl, jeder hat das mittlerweile so für sich definiert, dass es eigentlich nichts mehr darüber zu reden gibt.
Fehlt es dir, darüber zu reden?
Anja: Eigentlich nicht. Früher war das wichtiger. Ich habe es zum Beispiel erst spät geschafft, zum Orgasmus zu kommen, erst mit Ende 20. Es hat mir sehr geholfen, mit einer Freundin darüber zu reden, die gesagt hat, dass sie da auch Schwierigkeiten hat.
Den ersten Orgasmus mit einem Partner?
Anja: Nein, den ersten überhaupt. Mit meinem Freund hat es noch etwas länger gedauert.
Hast du es denn, ähm, engagiert probiert?
Anja: Ich glaube, das war das Problem. Je mehr du dich darauf konzentrierst, umso mehr verkrampfst du – und dann geht gar nichts mehr. Es hat mich echt entspannt, zu hören, dass es anderen auch so geht.
Jule: Ja, oder auch zu hören, wie unterschiedlich die Menschen bei dem Thema ticken. Wir haben mal auf einer Klassenfahrt "Wahrheit oder Pflicht" gespielt. Eine fragte: "Wann habt ihr zum ersten Mal masturbiert?" Die Antworten gingen von "Was ist Masturbation?" bis "Als ich sechs Jahre alt war." Da wird einem mal wieder klar, wie wenig es ein "normal" gibt.
Redet ihr denn auch mit euren Partnern darüber?
Jule: Klar! Also jeder wie er kann. Vielleicht muss einer dafür zwei Gläser Whisky getrunken haben, um über eine spezielle Fantasie zu sprechen – aber unbedingt reden!
Anja: Ich habe meinem Mann schon mal eine etwas verrücktere Fantasie eröffnet.
Wie lange hast du das mit dir rumgeschleppt?
Anja: Es hat lange gedauert, bis mir selbst klar war, dass ich das ausprobieren möchte. Dann ging es eigentlich schnell.
Claudia: Wie hat er reagiert?
Anja: Er war überrascht, aber ausprobierfreudig.
Jule: Hattest du Angst, dass das nach hinten losgeht? In Beziehungen habe ich eine höhere Hemmschwelle – aus Angst, etwas kaputt zu machen.
Claudia: Oh ja, das ist mir schon passiert, ich hatte mal einen Freund, der mir eröffnet hat, dass er von Analsex träumt. Ich war einverstanden, das auszuprobieren, aber es war dann sofort klar, dass das überhaupt nicht mein Ding ist. Ab da war es schwierig, weil ich wusste, was er eigentlich wollte. Ohne dieses Gespräch wäre es vielleicht besser gelaufen.
Anja: Na ja, weißt du das? Nur weil man nicht drüber redet, verschwindet die Tatsache, dass er drauf steht, ja nicht. Und dann wäre es vielleicht anders zum Problem geworden. Ich glaube, Reden hilft immer.
Habt ihr denn das Gefühl, genug Sex zu haben? Und den Sex, den ihr euch wünscht?
Marie: Nein und nein. Jetzt seid ihr dran!
Moment! Erst mal: warum "Nein und nein"?
Marie: Ich habe lange in einer sexlosen Blase gelebt und neige dazu, mich selbst zu zensieren. Ich hatte immer tausend Gründe, warum es nicht geht: Eine andere steht auf ihn. Das kann ich nicht machen, er ist schließlich mein Kollege. Ich sehe heute nicht gut genug aus. Bestimmt hat keiner von uns ein Kondom dabei, etc.
Und wenn es dann doch mal dazu kommt?
Marie: Dann brauche ich Zeit. Viele Männer sind allerdings schon fertig, wenn ich gerade erst in Fahrt komme. Ich würde sagen, dass ich leider noch nie richtig guten Sex hatte.
Claudia: Das ging einer Freundin von mir ähnlich, die brauchte mit allem Drum und Dran immer eine Stunde, wenn sie zum Orgasmus kommen wollte. Sie hat sich in einen Typen verliebt, der eher von der harten, schnellen Sorte war. Aber er hat sich drauf eingelassen und durch sie zu einer ganz neuen Art von Sex gefunden.
Wie ist das bei euch anderen?
Jule: Ich bin Single und habe immer mal wieder Affären; ich habe genug Sex und guten Sex, aber in letzter Zeit vermisse ich den Sex mit Gefühlen.
Claudia: Manchmal frage ich mich, ob man vielleicht mehr experimentieren sollte. Mein Repertoire hat sich eigentlich nicht groß verändert, seit ich 20 bin. Ich weiß, was mir gefällt und wie ich angefasst werden will. Das ist vielleicht ein recht enger Rahmen, aber ich bin glücklich damit.
Anja: Ich finde, es könnte mehr sein. Früher dachte ich durch die Probleme mit dem Orgasmus, Sex wäre einfach nicht so mein Ding, aber heute mit meinem Mann ist es toll und mir so wichtig geworden, wie ich es nie gedacht hätte.
Warum? Was gibt es dir?
Anja: Intimität mit dem Partner. Und es ist ein Ventil für Aggressionen, es entspannt total.
Jule: Ja, auch die Beziehung! Sex kann durchaus Probleme lösen. Wenn man sich streitet und nicht weiterkommt, ist das manchmal eine gute kurzfristige Lösung. Man spürt die Chemie und weiß sofort wieder, was einen verbindet.
Claudia: Ich finde, es ist so extrem anders als der Rest meines Lebens. Ich muss im Job immer vernünftig sein, effektiv und gut vorbereitet. Sex gibt mir viel als Gegenkonzept dazu.
Anja: Den Übergang muss man aber hinbekommen!
Claudia: Das hat sich bei mir auch verändert. Früher habe ich schneller abgewehrt, wenn ich mit Laptop im Bett saß und mein Mann Lust hatte. Ich konnte dann nicht so umschalten ins Körperliche. Jetzt lasse ich mir mehr Zeit, mich auch überzeugen zu lassen. Er sagt dann: Du musst ja nichts tun. Lass es einfach zu und genieß!
Marie: Sagt der das wirklich? Ist ja der Hammer!
Claudia: Ich kann mich dann auch fallen lassen. Das ist Yin und Yang, man braucht beides.
Apropos Laptop im Bett: Wirkt sich die Arbeit oder anderer Stress auf euer Sexleben aus?
Claudia: Bei uns hat sich der Sex hauptsächlich aufs Wochenende verlagert, aber das ist okay. Wir haben den Sonntagmorgen für uns entdeckt.
Jule: Ich habe gerade Lust, wenn ich Stress habe. Sex macht den Kopf frei wie Joggen, geht aber schneller.
Claudia: Mir schlagen einige Dinge auf die Stimmung, zum Beispiel schlechte Nachrichten wie bei Terroranschlägen.
Marie: Krass, bei mir ist es genau andersrum. So eine Weltuntergangsstimmung löst in mir immer das Gefühl aus, das Leben jetzt sofort in allen Formen auskosten zu wollen.
Und wie wirkt sich Sex bei euch auf andere Lebensbereiche aus? Es gibt zum Beispiel Studien, die sagen, er mache selbstbewusster.
Claudia: Dass ich mir in meiner Beziehung quasi ständig Sex abholen kann, ist schon eine Quelle der Selbstsicherheit. Und rückt die Dinge oft in die richtige Balance, Jobprobleme zum Beispiel werden nicht so groß. Guten Sex haben, ist wie frisch verliebt sein: Plötzlich fühlt sich alles leichter an.
Heißt "Sex abholen", dass du auch die Initiative ergreifst?
Claudia: Eher selten. Ich würde schon, aber mir kommt immer jemand zuvor. Dadurch haben sich meine Qualitäten als Verführerin nicht so ausgeprägt.
Marie: Ach, ich ergreife schon die Initiative, aber das steht dann oft auf ganz wackeligen Beinen. Wenn er nicht umgehend begeistert reagiert, ziehe ich mich sofort wieder zurück.
Anja: Oh Gott, das kann ich gar nicht, ich kann null verführen. Nicht mal flirten.
Wie ergreift ihr denn die Initiative? Subtil oder ganz direkt?
Marie: Es kommt mir immer so vor, als wäre es subtil, ist es wahrscheinlich aber gar nicht.
Jule: Neulich war ich mit jemandem auf einer Party, mit dem ich schon ein paar Dates hatte, aber gelaufen war bis dahin noch nichts. An dem Abend war da plötzlich noch eine andere Frau, die ihn gut fand. Da habe ich zu ihm gesagt: "Ich denke, wir gehen jetzt."
Und dann?
Jule: Sind wir gegangen.
Wohin?
Jule: Zu ihm natürlich. Und das hat sich gelohnt!
Gibt es etwas, das ihr gern früher über Sex gewusst hättet oder das ihr eurem jüngeren Ich raten wollen würdet?
Anja: Dass alle Menschen verschieden darin sind, wie sie Sex empfinden. Was dem einen gefällt, muss dem anderen noch lange nicht gefallen. Was ich in Filmen oder Zeitschriften sehe, muss nicht mein Ding sein. Wäre mir das früher klar geworden, wäre ich entspannter an das Thema rangegangen, hätte mir mehr Zeit gelassen und wahrscheinlich auch mehr genießen können.
Jule: Dass Sex immer etwas zwischen zwei Menschen verändert. Auch wenn man denkt, dass man ganz locker ist. Trotzdem macht es unterbewusst was mit dir oder dem anderen. Ich versuche heute, etwas verantwortungsbewusster zu sein.
Claudia: Ich glaube, dass das Aussehen, dieses sich Schönmachen für Sex, längst nicht so viel ausmacht wie sich wirklich darauf einzulassen. Marie: "Trau dich!" wäre ein guter Rat an mein jüngeres Ich gewesen. Trau dich, mehr darauf zuzugehen und dich mehr mit Sex zu befassen. Sei einfach mutiger!
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