Frauenhass dominiert unsere Gesellschaft. Was wir gegen ihn tun können, wieso Opfern von sexualisierter Gewalt so selten geglaubt wird und inwiefern der Fall Till Lindemann Bewusstsein schafft, erklärt uns Rechtsanwältin Christina Clemm.
Rechtsanwältin Christina Clemm hat oft mit Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun. Ihre Wut packte sie nun in das Buch "Gegen Frauenhass" (Hanser, 22 €). Hier gibt sie uns ihre Einschätzung zum Fall Till Lindemann und erklärt, was sich generell verändern muss, um eine solidarischere Gesellschaft ohne Frauenhass zu schaffen.
Frau Clemm, was ist der Unterschied zwischen Frauenhass und Sexismus?
Sexismus ist die Vorstellung, dass es aufgrund des Geschlechts Unterschiede gibt, verbunden mit einer Abwertung dieser verschiedenen Zuschreibungen. Zum Beispiel: Die Frau ist emotional und fürsorglich, der Mann nach Außen gerichtet und tatkräftig. Sexismus ist die Grundlage für Frauenhass. Damit meine ich eine emotionale Gewohnheit der Verachtung, die zielgerichtet und aggressiv ist und letztlich auch Gewalt legitimiert. Mit Frauen sind nicht nur biologische Frauen gemeint, sondern alle, die sich als Frau identifizieren oder weiblich gelesen werden.
Inwiefern dominiert Frauenhass unsere Gesellschaft?
Er hat eine wichtige Funktion in einem so patriarchal geprägten System wie unserem, denn er hilft dabei, dieses System aufrechtzuerhalten. Deswegen wird er nicht wirksam bekämpft und ist geradezu normalisiert. Es ist hilfreich für das Gesellschaftssystem, dass Frauen um ihre Sicherheit fürchten und mit alltäglichem Sexismus umgehen müssen. Das nimmt ihnen Energie, die in anderen Bereichen fehlt.
Was muss sich ändern?
Die aktuellen Strafverfahren scheitern oft an mangelnden Kapazitäten und zu wenig Fortbildung. Gesetze zu ändern reicht nicht. Es braucht mehr Schutz für Betroffene, Frauenhausplätze, Beratungsstellen, Schutzwohnungen. Dazu eine gute und ausreichende Präventions- und Täterarbeit. Kinder sollten als Kinder und nicht als Jungs und Mädchen erzogen werden. Sie sollten feinfühlig und tatkräftig, laut und emotional, wehrhaft und die Grenzen der anderen akzeptierend erzogen werden. In den Kitas und Schulen muss über geschlechtsbezogene Gewalt aufgeklärt werden. Wichtig ist die Verbindung mit dem Kampf gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit, denn das eine funktioniert nicht ohne das andere. Es geht um eine gesellschaftliche Veränderung, um die Beendigung des Patriarchats.
Als Rechtsanwältin, die vor allem Betroffene von sexualisierter Gewalt vertritt, haben sie ständig mit Fällen von Frauenhass zu tun. Wie viel Energie kostet Sie dieser ständige Kampf? Sie müssen doch eigentlich konstant wütend sein.
Ich sage immer, ich sterbe irgendwann an einer Überdosis Adrenalin – obwohl das gar nicht möglich ist. (lacht) Ich bin wütend darüber, wie wenig passiert. Deswegen habe ich auch dieses Buch geschrieben. Es stellt die Frage nach den Voraussetzungen der Gewalt und der mangelnden Bekämpfung dieser. Alle, die sich mit dem Thema beschäftigen, fordern seit vielen Jahren genau das gleiche. Es gibt immer wieder kleine Verbesserungen, ein paar neue Gesetze und Beratungsstellen, aber strukturell hat sich nichts verändert.
Hilft ein Fall wie Till Lindemann, der so öffentlich diskutiert wurde, dabei, ein Bewusstsein zu schaffen?
Man möchte bei solchen "Skandalen" meinen, jetzt hat auch der Letzte begriffen, was Frauenhass, sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch bedeutet. Trotzdem gibt es immer noch viel zu viele, die solches Verhalten rechtfertigen. So viele, die misogyne Erzählungen verbreiten wie etwa: "Die haben das ja alle gewollt. So sind sie eben, die Fans." Ich gehe eher nicht davon aus, dass es noch strafrechtliche Konsequenzen im Fall Rammstein geben wird, was womöglich an mangelnder Bereitschaft liegt, auszusagen oder daran, dass Taten verjährt sind oder es eben vor allem um Machtmissbrauch und nicht um Sexualstraftaten geht. Wichtiger finde ich aber auch: Was muss man für Strukturen schaffen, dass systematischer Machtmissbrauch nicht mehr passieren kann? Ich glaube, dass solche öffentlich diskutierten Fälle dabei helfen können, eine Sensibilisierung zu schaffen für diese Themen. Dass manche Menschen dadurch mit offeneren Augen durch die Welt gehen.
Wieso wird Frauen, die jemanden der sexuellen Belästigung oder Gewalt bezichtigen, so oft nicht geglaubt?
Dafür gibt es ganz viele Gründe. Einer davon sind die vielen Vorurteile: dass Frauen falsche Behauptungen aufstellen, um sich in den Vordergrund zu spielen, Karriere zu machen, Geld zu bekommen. Diese misogynen Erzählungen haben nichts mit der Realität zu tun. Das Schmerzensgeld, das man bei einer Vergewaltigung bekommt, ist so niedrig, dass man deswegen niemals einen Prozess anstreben würde. Die Karrieren scheitern, sie werden als ewige Opfer angesehen oder offener Hass und Verachtung schlägt ihnen entgegen. Diese Vorurteile aber führen dazu, dass man erst mal zweifelt und reflexhaft Mitleid für die beschuldigte Person hat.
Wie bekommen wir die Männer auf unsere Seite? Schließlich kann Frauenhass nur eingedämmt werden, wenn wir alle uns zusammentun. Trotzdem hat man bei vielen Männern das Gefühl, dass sie denken, sie sind fein raus, einfach nur, wenn sie selbst nicht Täter sind.
Für Männer bedeutet ein Ende des Patriarchats, Privilegien aufzugeben und das ist nicht einfach. Man muss auch nicht sofort alle Männer erreichen. Vielleicht reicht es auch, die ins Boot zu holen, die verstanden haben, dass es auch für sie vorteilhaft wäre, nicht mehr in so einer patriarchal geprägten Gesellschaft zu leben. Sie müssen sich fragen lassen: Was macht ihr denn eigentlich gegen geschlechtsbezogene Gewalt? Wo sind die Männer, die Frauenhass in ihrem Freundeskreis diskutieren? Die Männer, die andere Männer konfrontieren, wenn sie eine aggressive Männlichkeit ausstrahlen? Die sind leider sehr rar gesäht.
Haben Sie Hoffnung, dass ein Umdenken in der Gesellschaft möglich ist?
Momentan geht es nicht voran, eher zurück: Rechtsextreme bekommen überall auf der Welt wieder eine Bühne, Rassismus nimmt zu und queerfeindliche Gewalt steigt sprunghaft an. Aber es gibt eben auch viele Menschen, die gerade darüber nachdenken, wie es anders gehen kann, wie man eine solidarische Gesellschaft schafft. Gerade jüngere Menschen versuchen, andere Formen des Zusammenlebens zu finden und dafür zu kämpfen. Das macht mich froh.
Was kann jede:r selbst tun?
Wie gesagt, Männer müssen Privilegien überdenken und aufgeben und aktiv gegen geschlechtsbezogene Gewalt eintreten. Aber auch wir Frauen haben von klein auf gelernt, uns den patriarchalen Werten anzupassen. Dieses Denken sollten wir hinterfragen, es wagen, wirklich mitfühlend und solidarisch zu sein. Wir müssen vorrangehen für eine Gesellschaft, die patriarchalen und rassistischen Hass überwindet.
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