"Schneeglöckchen": im Moskauer Slang die Bezeichnung für eine Leiche, die unter Winterschnee vergraben erst beim Tauwetter wieder zum Vorschein kommt. Meist sind es Betrunkene oder Obdachlose, gelegentlich aber auch Mordopfer, von den Tätern unter der weißen Decke versteckt.
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von Iris Homann (35), Belletristik-Lektorin im Rowohlt Verlag und freie Übersetzerin aus dem Englischen ins Deutsche.
A.D. Miller: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Mit einem "Schneeglöckchen" beginnt Nicks Bericht, verfasst nach seiner Heimkehr nach England an seine Verlobte, die er in wenigen Monaten heiraten will. Sie habe ein Recht darauf, zu erfahren, warum er abgereist sei. Außerdem dränge es ihn, jemandem von Russland zu erzählen, auch wenn es schmerze.
Fast ist es eine alltägliche Szene, Polizisten stehen herum, einige telefonieren, manche sehen hin, andere weg. Dies ist jedoch beinahe das Ende der Geschichte. Der Anfang vom Ende beginnt etwa ein halbes Jahr davor, im Moskauer Herbst, bevor es anfängt zu schneien und als Nick Mascha begegnet. Seit vier Jahren arbeitet Nick in Moskau. Als Anwalt arbeitet er als Bindeglied zwischen ausländischen Bänkern und russischen Geschäftsleuten. In Sibirien quillt das Öl aus dem Boden, das Land wird vom Geld überrollt. Nick meint, er kenne sich aus, inzwischen ist die Stadt eher sein Zuhause als London. In der U-Bahn lernt er zufällig Mascha kennen. Sie nimmt ihn mit und zeigt ihm ihr Moskau, eine dunkle, funkelnde, berauschende Stadt. Nick lässt sich von ihr mitreißen. Das Verhängnis, das über allem schwebt, seine fatale Selbsttäuschung, will er nicht wahrhaben. Bis es zu spät ist ...
Von der ersten Silbe an hält Philipp Moog seine Hörer/innen gefangen. Großartig gibt er in der ungekürzten Lesung die drückende Moskauer Winteratmosphäre wieder, unter der Aufbruchsstimmung, Hoffnung und Enttäuschung brodeln. A. D. Miller war von 2004 bis 2007 Moskau-Korrespondent für The Economist. Mit feiner Beobachtungsgabe fängt er Gesten, Eigenarten und Besonderheiten ein. In beeindruckenden Bildern erzählt er von einem Land im Umbruch, ohne Regeln und mit einer eigenen Moral, vor Schönheit funkelnd und zynisch zugleich.
Iris Homann (35) ist Belletristik-Lektorin im Rowohlt Verlag, außerdem arbeitet sie als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen ins Deutsche. Die Buchbranche kennt sie aus vielen Perspektiven. Erst volontierte sie im Hörbuch-Bereich, von dort wechselte sie in literarische Agenturen in New York und Hamburg, bevor sie Taschenbuch-Lektorin wurde. Immer geblieben ist jedoch die Begeisterung für eine packende Geschichte. Sie ist Mitglied im Netzwerk der Bücherfrauen (www.buecherfrauen.de).
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"