Was mir bei meinen Spaziergängen und Wanderungen immer wieder auffällt, ist, wie modern Südtirol ist. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner Traditionen.
Da will man ganz bodenständig ein Bärlauchrisotto im Bozener Gasthof Löwengrube essen, und wer begrüßt einen dort außer Holzverkleidung und Butzenscheiben: Arne Jacobsen-Sessel, die in ihrer Raffinesse etwa den Jakobsmuscheln entsprechen, die zur Pasta serviert werden. Wunderbar! Wie gelingt dieser frische Mix aus Alt und Neu? Unter anderem dadurch, dass man sich auf alte Handwerkskunst besinnt – auch in Detailfragen. Im Bauern- und Spezialitätengeschäft "Pur Südtirol" kann man zum Beispiel das Kochbesteck von Harry Thaler kaufen: schlicht, aus Holz geschnitzt – und nur ein Beispiel für die reduzierte Formensprache, die dem Designer eine Auszeichnung des Londoner Lifestylemagazin Monocle einbrachte. Ich meine Monocle! Für die liegt Südtirol doch hinter den sieben Bergen…
Aber vielleicht birgt genau diese Abgeschiedenheit das Geheimnis. Statt Zerstreuung: Konzentration auf das Wesentliche – die Essenz. Wo, wenn nicht hier kann man den Dingen auf die Spur kommen. Man lebt mit der Natur und enthüllt ihre Schönheit, indem man das Unnötige wegnimmt. Das zeigt sich auch in der Architektur. Sei es bei der Feuerwehr-Station im Weindorf Magreid, die streng genommen gar kein Gebäude ist. Denn die Autos sind im Felsen hinter einer großen Schieferplatte versteckt. Oder das Weingut Manicor, dessen Räumlichkeiten in den Weinberg hineingegraben wurden. Was bleibt? Natur pur.
Gut tut übrigens auch die Essenz in flüssiger Form: ein Südtiroler Grappa zum Beispiel – mein Favorit: die Schnäpse der Brennerei Waldschenke – oder ein Tee aus Stilfser Bergkräutern. Beides habe ich auf dem Bozener Bauernmarkt entdeckt.
Und wie könnte es anders sein: Auch sich selbst kann man destillieren. Eine Philosophin, Ute Lauterbauch, bei der ich viele Seminare besucht habe, sagte einmal: sich auf den Grund zu gehen, sei, wie Wasser aus einem Gefäß zu schöpfen, bis man auf den Boden des Krugs blickt – und sich selbst darin erkennt. Wohl eine der befreiendsten Formen der Reduktion. Und auf viele Arten erfahrbar, auch in den Südtiroler Bergen. Denn je höher man beim Wandern emporsteigt, desto mehr entfernt man sich von all dem, was einen im Tal so ausmacht: Statussymbole, Beruf oder Kleidung. Stattdessen bleibt nur der eigene Körper. Und der Wind, der über die Hochebene streift. Bis man irgendwann merkt, dass es gar nicht der Wind ist, den man da hört, sondern der eigene Atem. Ein, aus, ein, aus. Und wer ganz genau lauscht, spürt, dass beim Wendepunkt des Atems eine Wahrheit darauf wartet, ausgesprochen – oder zumindest gedacht – zu werden. Doch dafür muss ich noch viele Berge hinaufgehen., statt Schwere verspricht. Und das ist immer die bessere Richtung.