Laura Roschewitz – meine empirische Studie zum Wunsch nach Entschleunigung in Deutschland.
Zeit lässt sich nicht sparen, man kann sie sich nur nehmen – nach diesem Motto lebt Laura Roschewitz. Anstoß war ihre Bachelor-Arbeit zum Thema Entschleunigung. Heute weiß sie: Time is Honey – nicht Money.
Vor einem Jahr, aus einer persönlichen Krise heraus, entwickelte sich bei mir das Interesse an dem Thema Zeit (-druck) und dem Phänomen der Beschleunigung der verschiedensten Teile unserer Gesellschaft. Es schien mir, dass der Zeitdruck und die Beschleunigung unseres Lebens sich stetig erhöhen. Nicht nur im beruflichen Umfeld, wo der Konkurrenzdruck immer stärker zu werden scheint und sich keine Freiräume mehr für persönliche Entwicklung auftun, auch im privaten Bereich. Die Entwicklungen der verschiedenen Bereiche scheinen zu rasen. Eigentlich müsste man noch Fremdsprachen lernen, während man Sport macht um auch körperlich fit zu sein, viel reisen, um etwas von der Welt zu sehen und dies alles dann noch auf sozialen Plattformen mit anderen zu teilen, damit es auch ja „der Konkurrenz“ nicht entgeht, was man alles in seiner Zeit macht.
Bieten viele Möglichkeiten wirklich Freiheit?
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Und wo bleibt der Raum, sich wirklich frei zu entwickeln? Darf man in schwächeren Phasen sich nicht auch einfach mal hängen lassen, nichts tun und zu sich kommen? Muss man immer die beste aller Chancen, in jedem Moment ergreifen? Scheinbar haben wir heute alle Freiheit der Welt, wir können, wenn wir so privilegiert sind wie ich es bin, uns eine Ausbildung oder ein Studium auswählen, wir können ins Ausland gehen, wir können Beziehungen eingehen und wieder loslassen. Doch bieten diese vielen Möglichkeiten wirklich Freiheit? Oder macht auch das Druck? Denn wie kann es gelingen, unter all diesen Dingen genau das zu finden, was zu mir passt, was mich erfüllt, was mir eine finanzielle Unabhängigkeit bietet und was im besten Fall auch noch meine Freunde/Familie gut finden?
Kurz vor dem Ende meines Bachelorstudiums in Wirtschaftspsychologie, im Laufe eines Urlaubssemesters in dem ich mich um mich kümmerte, um aus der Krise gestärkt hervorzugehen, wo ich aber kein Praktikum und keine monatelangen beeindruckenden Reisen nachweisen konnte, wurde mir klar, dass ich meine empirische Bachelorarbeit Zeit (-druck) und dem Phänomen der Entschleunigung widmen wollte. Bei der Recherche zeigte sich schnell, dass es kaum empirische Untersuchungen zu diesem Thema gibt. Zwar schreiben mittlerweile viele Zeitschriften, wie die Zeit oder Spiegel Wissen, dass der Wunsch nach Entschleunigung existent ist, jedoch galt es bis dahin eher als ein individuelles und sehr persönliches, nicht greifbares, Phänomen.
Dies wollte ich empirisch untersuchen. Ziel war es herauszufinden, ob es diesen Wunsch tatsächlich gibt, bei welchen Gruppen unserer Gesellschaft er ggf. besonders stark vorhanden ist und ob es Persönlichkeitsmerkmale gibt, welche diesen Wunsch fördern oder hemmen. Mein Hauptanliegen war es, eine fundierte, aussagekräftige empirische Arbeit zu erstellen, welche dieses neue Thema beleuchtet und greifbar macht. Dass es kein ausschließlich individuelles Phänomen von Menschen ist, die sich damit auseinandersetzen.
So befragte ich 588 Personen in Deutschland, von Azubis, über Studenten, Berufstätige bis hin zu Rentnern. Die Stichprobenteilnehmer waren zwischen 16 und 72 Jahren alt und ich erreichte Sie über eine Online Befragung, da dies für die knappe Zeitspanne der Bachelorarbeit die geeignetste Befragungsform ist.
Jeder 2. wünscht sich Entschleunigung!
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Rund 80 % der Befragten empfinden in ihrem Leben Zeitdruck, mehr als 50 % wünschen sich Entschleunigung. Bezogen auf die Persönlichkeitsmerkmale, welche auf Grund des psychologischen Hintergrundes der Arbeit erfasst wurden, zeigte sich, dass Autonomie mit einem geringeren, Overcommitment hingegen mit einem höheren Wunsch nach Entschleunigung einhergeht. Das bedeutet, dass Menschen, die sehr selbstsicher sind und nicht so stark abhängig von den Meinungen und der Hilfe anderer, die verspüren einen weniger starken Wunsch nach Entschleunigung. Autonom handeln Menschen auch in ihrem Beruf, wenn Sie Entscheidungsfreiheit haben und die Zeit in ihrem Leben selbst gestalten können. Overcommitment hingegen beschreibt, inwiefern Menschen dazu veranlagt sind, sich für berufliche Angelegenheiten (Arbeit/Studium) zu verausgaben. Je höher der Wert in Overcommitment ist (je stärker Menschen diese Verausgabungsneigung aufweisen) desto stärker ist auch der Wunsch nach Entschleunigung. Das relativ junge Konstrukt Overcommitment steht in einem Zusammenhang mit psychischen und physischen Krankheiten, die aufgrund von Stress am Arbeitsplatz entstehen und wird aktuell an der Uniklinik Düsseldorf erforscht. Interessant ist, dass weder der empfundene Zeitdruck noch der Wunsch nach Entschleunigung in einem Zusammenhang mit der wöchentlichen Arbeitszeit steht, vielmehr hat die wahrgenommene Kontrolle über die Zeiteinteilung einen Einfluss. So Empfinden Menschen, die Ihre Zeit frei einteilen können einen signifikant schwächeren Wunsch nach Entschleunigung als diejenigen, die keinen Einfluss auf die Zeiteinteilung haben. Die Befunde untermauern die hohe Relevanz von Autonomie – als Personenmerkmal ebenso wie als wahrgenommener Handlungsspielraum im beruflichen und privaten Leben.
Es geht also weniger um die Belastung durch viel Arbeit als um die Möglichkeit, dies selbst mitbestimmen zu können. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Befragten im Schnitt ihre wöchentliche Arbeitsstundenanzahl um rund 20% reduzieren wollen würden. Dies lässt eine kritische Betrachtung unserer Arbeitszeitmodelle zu und gibt einen weiteren Anlass, über Alternativen zu diskutieren (beispielsweise Wochenstundenzahlreduzierung auf 30 Stunden oder das bedingungslose Grundeinkommen, Sabbatical Zeiten, HomeOffice etc).
Es ist wichtig Eigenzeiten zu berücksichtigen
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Als Fazit der empirischen Arbeit bleibt zu sagen, dass sowohl in der Arbeitswelt, als auch in den Universitäten wieder mehr auf Eigenzeiten der Individuen eingegangen werden sollte, um den Anstieg der gesundheitlichen und psychischen Erkrankungen, auch durch Stress ausgelöst, nicht weiter voranschreiten sondern bremsen zu können. Dies ist aus ökonomischer sowie sozialer Betrachtungsweise erstrebenswert. Neben den Institutionen kann auch jedes Individuum in Eigenverantwortung die eigenen Wünsche und Bedürfnisse wahrnehmen und das eigene Leben möglichst mit diesen in Einklang bringen. Betrachtet man die Ergebnisse dieser Arbeit gesellschaftlich, so liegt eine Empfehlung auf der Hand. Da Zeit in unserer Hochleistungsgesellschaft ein knappes Gut ist und dies vermutlich auch bleiben wird, ist es wichtig, Eigenzeiten wieder mehr zu berücksichtigen. Der Wohlstand einer Nation lässt sich nicht mehr ausschließlich an materiellen Größen wie dem BIP messen, vielmehr geraten Begriffe wie Zeitwohlstand in die Diskussion.
Der zukünftige Erfolg einer Gesellschaft wird davon abhängig sein, das die verschiedenen Teile dieser Gesellschaft gesund sind, denn nur dann kann langfristig Wohlstand erreicht werden.
Für mich persönlich bedeutet dies, dass ich Konsequenzen aus meinem, mir zu stark beschleunigten Leben, ziehe. Ich ziehe örtlich etwas raus aus der absoluten Mitte der Großstadt, ich genieße die Natur wieder regelmäßig, ich habe mir einen Hund an meine Seite geholt und habe nach dem Studium nicht direkt einen Job angenommen. Viel mehr möchte ich weiter an diesem Thema arbeiten und forschen, mich entwickeln, mir die Zeit nehmen um meine Interessen wieder zu spüren und auszubauen – dies war im Strudel von Ausbildung/Arbeit/Studium/Privatleben/Reisen (und das alles möglichst optimal) etwas auf der Strecke geblieben. Gar nicht so einfach. Aber ich übe.