Roger Willemsen ist tot. Er ist einer der großen Intellektuellen unserer Zeit. Nicht zuletzt seine Reisen haben ihn dazu gemacht. 2011 gab es bei uns dazu ein Interview. Er wartete gerade: Auf das Gefühl, wieder aufbrechen zu müssen.
EMOTION: Herr Willemsen, Sie sind ein Reisender. War das in Ihrer Jugend auch schon so?
ROGER WILLEMSEN: Ich war mit 15 in eine Engländerin verliebt und habe meinen Eltern erzählt, ich würde in die Eifel fahren. In Wirklichkeit stellte ich mich an den Bonner Verteilerkreis und trampte in anderthalb Tagen nach London und stand mit langen Haaren an einem Sonntagnachmittag in der Küche des Mädchens. Die Eltern erklärten mir unmissverständlich, dass ich nicht willkommen war, dann bekam ich eine höfliche Tasse Tee, bedankte mich und die Mutter sagte: „You are welcome“, was ja so viel wie „gern geschehen“ heißt. Ich dagegen habe es wörtlich übersetzt und rief begeistert: „Oh, am I?“ Am Ende haben mich die Eltern zwei Wochen beherbergt, die Mutter weinte bei meinem Abschied und die Tochter war erleichtert, als ich endlich abreiste. Story of my life – die Mütter lieben mich mehr als die Töchter.
Und als Kind mit Ihren Eltern?
Wir hatten nicht viel Geld. Das war Holland, Strand, Burgen bauen. Einmal sind meine Eltern nach Portugal gefahren und immer, wenn ich einen Vogel hörte, sagte ich zu meiner Großmutter – Hör mal, Portugal. Ich konnte Portugal und Nachtigall nicht unterscheiden. Aber meine Eltern waren sehr freizügig, mit neun durfte ich mit dem Fahrrad in die Eifel fahren, mein 7-jähriger Freund war dabei, wir fuhren von Jugendherberge zu Jugendherberge… Heute unvorstellbar.
Wohin geht Ihre nächste Reise?
Im Augenblick sind meine Ziele entweder von Kriegen oder von Naturkatastrophen betroffen. Ich wäre sehr gern nach Mauretanien gefahren und hätte die Tuareg besucht. Auch Damaskus musste ich leider abblasen. Ich warte im Moment auf das Gefühl, das mir sagt: Ich muss aufbrechen. Es gibt in mir so eine gewisse Inständigkeit, die mein Reisen befeuert. Es muss zwingend sein.
Wer oder was zwingt Sie?
Die Ermüdung in der Routine. Wenn man sich nicht mehr erneuern kann, weil man alle Verhaltensweisen zu dieser Stadt, zu diesem Zuhause bereits gelebt hat, dann muss man in Räume eintreten, die einen fordern, vielleicht sogar bedrohen, ob mit Vereinsamung oder schlechtem Essen. Das kann ich zuhause nicht simulieren. In Afghanistan bin ich mit etwas ganz anderem konfrontiert, mit struktureller Gewalt, aber auch mit meinem eigenen Unverständnis, etwa wenn ich ein Nomadenzelt betrete und überhaupt nicht mehr weiß, wie ich mich benehmen soll.
Haben Sie auf solchen Reisen eine Schamgrenze, die Ihnen sagt, in welche Räume Sie nicht eintreten dürfen?
Ich trete in der Fremde nie sehr breitbeinig auf. Ich lese Gesichter, weiß, wann sie abweisend sind, wann sie schamhaft werden. Da ich oft die Sprache nicht spreche, muss ich Körper lesen können. Es sorgt immer für viel Gelächter, wenn ich einfach das nachmache, was mein Gegenüber tut. Aber die Form der Rücksichtnahme, der Selbstreduzierung, die wird eigentlich in jeder Kultur wohlwollend aufgenommen.
Wie erklären Sie sich diese Lust an unbekannten Welten?
Das ist ein unstillbarer Wirklichkeitshunger. Ich schreibe alles auf, wo immer ich bin, schreibe ich. Für mein Buch „Die Enden der Welt“ habe ich teilweise auf 30 Jahre alte Notizen zurückgreifen können.
Wie definieren Sie denn Ende der Welt?
Es gibt objektive Enden – die Südspitze Afrikas, der Nordpol. Interessanter sind aber die subjektiven, wo man sich fühlt wie in einer Landschaft, die so aussieht wie die Rückseite einer Stickerei. Wenn ich auf Reisen bin, tue ich Dinge, die mir in Deutschland nicht vorstellen könnte, einmal habe ich in Polynesien einen Arm angeschaut, der aus einem Auto ragte. Er war dick, braun, tätowiert. Ich hatte keine Ahnung, welcher Körper zu diesem Arm gehörte, aber ich habe einfach meine Hand in die fremde gelegt. Die hat dann mit einem Schraubstockgriff zugepackt und mich zum Wagen gezogen. Es war ein Rugbyspieler, der mein Freund wurde und mir zwei Wochen seine Welt zeigte. In Minsk bin ich einfach in ein Krankenhaus gegangen und habe mir gedacht, ich geh solange weiter, bis mich jemand aufhält, und dann ist eine Situation da, zu der verhalte ich mich dann.
Und so was geht besser, wenn man allein unterwegs ist?
Es ist ja so, dass man zu zweit immer einen Kokon bildet, Menschen tun sich dann schwerer, auf einen zuzugehen. Wenn ich allein auf eine Gemeinschaft treffe, werde ich immer schnell aufgenommen, dazu kommt, dass meine Selbstgerechtigkeit in der Bewegung durch einen anderen beeinträchtigt wird. Mich nur von mir treiben zu lassen, das ist Teil des Reiseglücks.
Sie reisen selten luxuriös, haben Sie eine kulinarische Ekelschwelle?
Ich muss essen können, ohne mich zu fragen, was da drin ist. Nomaden haben mir einmal Joghurt mit Fleisch und Safranreis angeboten, da schwammen Augen drin herum. So etwas schafft man nur mit verödeten Geschmackspapillen. Einmal hat mir ein Afghane ein Sgrout angeboten, das ist ein angegorener Ziegenkäse, sieht aus wie ein Hoden, der hat sich dann noch tagelang in mir bemerkbar gemacht. Ich habe zum Glück einen sehr robusten Magen. Wenn man, wie ich, so viele Dreckstoffe aufgenommen hat, dann entwickelt man genügend Antistoffe.
Was unterscheidet den Touristen vom Reisenden?
Der Tourist möchte kurzfristige Wirklichkeitsberührungen. Schnappschüsse. Ich und die Mona Lisa, ich und der Schiefe Turm von Pisa. Der Reisende ist einer, der sich unsichtbar machen will, der am liebsten vom Radarschirm der allgemeinen Beobachtung verschwinden will.
Präzision ist das größte Glück am Schreiben.
Roger WillemsenTweet
Wie lange dauert es, bis man als großer, weißer Mann in der Fremde nicht mehr auffällt?
Es gibt dieses Totstellen. Ich reise deshalb immer ohne Fotoapparat, ich bin versunken, ich notiere. Wenn ich z.B. durch Patagonien fahre, dann setze ich mich stundenlang in die Landschaft und protokolliere, weil ich sie unterscheidbar machen will von jeder anderen Landschaft. Präzision ist das größte Glück am Schreiben.
Waren Sie auf Reisen schon einmal in Lebensgefahr?
Mehrfach. In Kambodscha hat mal jemand mit den Worten: „Du Nazi!“ eine Waffe auf mich gerichtet. Das war insofern interessant, weil man nicht weiß – was passiert als Nächstes? Der Tod ist so banal, der kündigt sich nicht an. In Nepal habe ich mal einen Mann angesprochen, weil ich kiffen wollte, der hat mich in einen unterirdischen Lehmbau geführt, wenn mir da etwas passiert wäre, hätte es nie jemand erfahren. Da war mir sehr, sehr mulmig.
Ausgerechnet in Hongkong, einer Weltstadt, haben Sie einmal beim Anblick einer Speisekarte, auf der ein „Winterlicher Salat“ angeboten wurde, geweint.
Ich war unglücklich verliebt, hatte eine Entzündung am Knie, lag im Hotelbett, schaute in eine Schalenlampe, in der ein Gekko langsam verendete und fühlte mich von allem Vertrauten abgeschnitten. Und da haben mich die Worte „Winterliche Salate“ einfach zu Tränen gerührt.
Reisen ist ja Bewegung – manchmal auch ein Weglaufen vor Beziehungen und Problemen?
Ich habe eine stabile Beziehung zu allem Wandelbaren und fühle mich im Prozess der Reise oft mehr zuhause als beim Ankommen. Kürzlich war ich nachts im Nieselregen an einer Tankstelle in Marokko im Niemandsland – zwischen Rinderhälften, Blumenständen und Karten spielenden Männern – das war für mich der glücklichste Moment der Reise. Der Moment im Transit. Und so bin ich auch oft in menschlichen Verhältnissen. Im Zwischendurch. Im Noch nicht. Im Nicht mehr. Ich mag die Dinge im Fluss. Ich mag es, wenn Menschen sich von einer Form in die andere bewegen, ich sehe ihnen nicht gern beim Erstarren zu. Deshalb mag ich Hysterikerinnen lieber als saturierte Charaktere.
Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: Außenwelt bringt Innenwelt, stimmen Sie dem zu?
Das stimmt auch umgekehrt. Wie hoch meine Durchlässigkeit ist, bestimmt ja auch, was ich sehe. In einem Zug in Birma habe ich einmal die Landschaft in den Augen eines Ehepaars betrachtet, das mir gegenübersaß. Wenn draußen ein See glitzerte, glitzerten auch ihre Gesichter.
Klugheit erwirbt man sich durch Bewegung, nicht durch Stillstand.
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In Erfahrung steckt ja das Wort „fahren“ – wo besteht da der Zusammenhang?
Wir bewegen uns, dadurch mehren wir unser Wissen. Wir sagen ja auch, er ist bewandert, wenn jemand gut Bescheid weiß – ein Wissen, das er sich sozusagen „erwandert“ hat. Klugheit erwirbt man sich durch Bewegung, nicht durch Stillstand.
Was haben Sie auf Ihren Reisen gelernt?
Duldsamkeit, Toleranz, man lernt, den eigenen Standpunkt zu relativieren, den des Mannes, des Weißen, des Kultivierten, des Wohlsituierten.
Was für ein Gefühl haben Sie beim Take-off?
Das ist die Ouvertüre. Das Orchester spielt schon, aber der Vorhang ist noch geschlossen. Die ganze Erwartung ist schon da, ich liebe dieses Gefühl. Das Unausweichliche daran, dass man nicht mehr umkehren kann. Ich schaue auf die Landschaft unter mir und sie sagt mir was. Als ich im Kongo landete, wusste ich bereits, wie froh ich sein würde, wenn ich wieder abreise.
Wegsein und sich mitnehmen – belastend oder befreiend?
Ich empfinde mich als unausweichlich. Ich kann kein grundsätzlich Anderer werden, ich kann nur meine Konjunktive bereisen – wer wäre ich an der Seite einer 2-Zentner-schweren Tonganerin, die in Bastmatten eingenäht ist?
EMOTION: Im Zeitalter von Internet und Google, gibt es da noch echte Überraschungen?
Durchaus. Die fotogenen Qualitäten der Welt sind zwar weitestgehend erfasst, die sagen mir wenig, aber die harten, da, wo es wehtut, der Geruch, der Geschmack, die Dramen der Straße, den Sound, der eine Gegend ist, all das lässt sich nicht vorwegnehmen.
Wie unterscheidet sich der Städtereisende vom Natursucher?
Der Natursucher riskiert mehr Innenwelt, die Stadt dagegen bietet so viele Impulse an, dass man auf der Reise zu sich selbst ständig abgelenkt wird. In der Natur muss man sich auf ihr Zeitmaß einlassen, am Nordpol habe ich 12 Stunden an einer Schiffsreling gestanden und Wolken und Eisflächen beobachtet, nichts weiter.
Langweilen Sie sich nie in solchen Momenten?
Nein, wenn ich z.B. im Dschungel von Borneo bin, fällt um 18 Uhr der Strom aus, dann müssen Sie sich bis zum nächsten Morgen mit sich selbst beschäftigen. Dann macht man sich Gedanken, man reist innerlich. Viele Menschen halten diese Form der Selbstbegegnung nicht aus.
Ist das der größte Irrtum? Dass man sich beim Reisen entkommt?
Absolut. Die Grundsatzfrage für alle Reisenden lautet: Was mache ich hier? Es gibt ja einen Zusammenhang zwischen In die Welt hinein- und aus ihr heraus. Ich reise maßlos, ich will über alle Horizonte hinaus. Ich will mich bereichert fühlen durch alles, was mich umgibt, ich will Sterbebettbilder sammeln. Ich will, wenn ich mal sterbe, den Nordpol vor mir sehen. Diese Ausleerung von allem, alle Farben weg, die Natur, nur noch weißgrau, mausgrau, ein leichter Goldschimmer. Das wäre das Ende. Ein gutes.