Frauen geht fremd! Dieser Satz regt Sie auf? Weil Sie für ein bisschen Sex nie Ihre Liebsten verletzen würden? Dann machen Sie sich Illusionen, sagt Autorin Michèle Binswanger
Drei Viertel aller Frauen gehen irgendwann mal fremd. Das kann auch Gutes bewirken: Denn oft ist es nicht nur ein Ausrutscher, sondern der Aufbruch zu einem neuen Ich – und in eine bessere Beziehung.
Es gibt eine seltsame Diskrepanz zwischen dem Schmerz, betrogen zu werden, und dem Spaß, den das Fremdgehen macht. Wobei Spaß vielleicht das falsche Wort ist. Gerade für Frauen ist es oft viel mehr als das. Ich habe die letzten zwei Jahre viele Fremdgeherinnen nach ihren Erfahrungen, Motiven und Wünschen gefragt. So unerfreulich die Konsequenzen manchmal waren: Keine hat es bereut. Ein Seitensprung kann verschüttete Leidenschaften wecken, verkrustete Beziehungsprobleme aufbrechen, scheinbar Unverrückbares in Bewegung bringen und neue Perspektiven auf sich, das Leben, die Liebe eröffnen.
Viele mögen jetzt denken: "So etwas würde ich nie tun. Ich bin doch keine Schlampe, die für ein bisschen Vergnügen ihre Liebsten verletzt und Familien zerstört." Und meinen das ganz aufrichtig. Die meisten Fremdgeherinnen, mit denen ich sprach, dachten genauso – bis zu diesem einen Abend, diesem einen Freund, Kollegen, Fremden in einer Bar. Oft ist es eine Laune, man ist in besonderer Stimmung, leichtsinnig, vielleicht betrunken. Das Handy liegt im Hotel oder ist lautlos gestellt. Und wie unter einem geheimen Zauber tut man, was man sich nie zugetraut hätte: Man wirft seine moralischen Vorsätze über Bord und geht fremd. Manchmal ist es ein einmaliger Ausrutscher – viel öfter der Anfang eines neuen Lebens.
Mirjam, 35, dreifache Mutter
Sie war erst 22, als sie mit Mario zusammenkam, und schon nach zwei Monaten schwanger. Beide wussten um das Wagnis, mit einem im Grunde fremden Menschen eine Familie zu gründen, aber waren verliebt und sagten Ja zueinander. Ihnen war klar, dass das Ziel "lebenslang" sein musste, aber weil beide noch sehr jung waren, einigten sie sich darauf, die Tür für andere sexuelle Erfahrungen offen zu lassen. Als Mirjam ihr Studium begann, war das eine willkommene Abwechslung in ihrem fordernden Dasein als Mutter. Dort traf sie Sascha, ein netter Kommilitone, aber nicht mehr, dachte sie. Bis er sie eines Tages über die Couch in seiner WG warf und sie exzessiven Sex hatten. Danach ging Mirjam nach Hause und wunderte sich, dass das Abendessen nicht nach schlechtem Gewissen, sondern nach Freiheit schmeckte. Ein paar Wochen später erzählte sie ihrem Mann von ihrem Abenteuer, schließlich hatten beide in das Arrangement eingewilligt, doch er reagierte nicht gut. Es gab ein Drama mit Tränen und anschließender Versöhnung. Die Erfahrung zeigte Mirjam, dass es möglich war, aber einen Preis hatte. Sie bekamen noch zwei Kinder – und hatten beide weiter Affären. Trotz teils schlimmer Eifersucht, besonders als Mario etwas mit der Nachbarin anfing, sagt Mirjam: "Wir haben nicht aufgegeben, sondern gesagt: Schauen wir, was das mit uns macht. Voraussetzung ist, dass man sich sehr nah ist und gut spürt und sich des anderen sicher ist." Fazit: Die Unsicherheit, die eine Affäre aufwirft, kann ein neues Licht auf den anderen und auf die Beziehung werfen, sodass man den Partner plötzlich wieder erobern will. Mutterschaft ist toll, aber Mütter geben und geben. Eine Affäre kann da sehr effizient Kraft geben. Das intensive Begehren, die Glücksmomente, die Selbstbestätigung, plötzlich nimmt man alles lockerer und hat mehr Energie für den Alltag.
Fremdgehen ist eher die Regel als die Ausnahme
Auf kaum einem Gebiet funktioniert die Doppelmoral zuverlässiger. Wir pathologisieren Fremdgeher und stigmatisieren Fremdgeherinnen. Dabei sind sie eher die Regel als die Ausnahme. Laut Experten gehen rund 90 Prozent der Männer und drei Viertel der Frauen irgendwann fremd. Untreue ist auch der häufigste Trennungsgrund. Wir haben kein Problem, von einer Kurzzeitbeziehung zur nächsten zu eilen. Doch sexuelle Kontakte außerhalb der bestehenden Beziehung zuzulassen, können wir uns nicht im Traum vorstellen. Man muss sich also die Frage stellen: Müssten wir, wenn jemand fremdgeht, nicht eher das Ideal absolut monogamer Partnerschaften aufgeben als die Beziehung?
Manchmal ist es nur ein Ausrutscher - viel öfter aber der Anfang eines neuen Lebens
Michèle BinswangerTweet
Für Frauen hat sich die Frage nach der Bedeutung von Treue in den letzten Jahren besonders dringlich gestellt. Sie haben ihre Rolle in der Gesellschaft neu definiert und sich auch sonst in vielerlei Hinsicht befreit – nicht zuletzt was ihre sexuellen Bedürfnisse angeht. Eine erfüllte Sexualität zu leben, stand früher für die meisten Frauen gar nicht zur Debatte. Heute ist sie zu einem zentralen Anspruch in der Beziehung geworden. Die Schwierigkeiten beginnen bei der Umsetzung. Denn die weibliche Sexualität entwickelt sich im Laufe der Biografie und reagiert einigermaßen sensibel auf äußere Umstände Die Geschichten der von mir interviewten Fremdgeherinnen sind alle einzigartig. Trotzdem beginnen sie meist mit dem Satz: "Eigentlich war alles in Ordnung." Dann kommt das große "Aber ...". Viele haben ihren Partner jung getroffen und eine Familie gegründet. Sex spielte damals nur eine untergeordnete Rolle, war ein Weg zum Herz des Mannes. Dann ziehen die Jahre ins Land, sie verlieren ihre Unsicherheiten, fühlen sich besser mit sich und ihrem Körper. Und entdecken, dass sie sehr wohl Lust auf Sex haben – aber nicht mit ihrem Partner. Manche gingen fremd, um aus der Beziehung auszubrechen, andere, um diese weiterführen zu können. Manche waren von ihrem Verhalten selbst am meisten überrascht, andere haben es von langer Hand geplant, allein oder auch mit ihrem Partner.
Die Unlust der Frau
Sehr oft stand am Anfang die sexuelle Unlust, die tote Hose im Ehebett. Das ist auch einer der häufigsten Gründe, der Paare zum Sexual- oder Paartherapeuten treibt. Und oft ist es die Unlust der Frau. Die pharmazeutische Industrie hat dafür einen Namen erfunden: "hypoactive sexual desire disorder", auf Deutsch: hypoaktive Sexualfunktionsstörung. Seit Jahren forscht man nach einem Medikament, das diese "Störung" behebt, immer wieder wird ein Produkt lanciert, das als "Viagra für die Frau" angepriesen wird – in der Hoffnung, einen pharmazeutischen Erfolg zu landen. Dies war bislang nicht der Fall, aus einem simplen Grund: Viagra behandelt eine relativ einfache körperliche Störung, stellt den Blutfluss im Penis sicher, wenn die Lust da ist, nicht aber die Erektion. Doch Viagra für die Frau soll Lust erzeugen, indem es auf ihre größte erogene Zone wirkt: das Hirn. Das birgt einige Schwierigkeiten, denn das Hirn und das weibliche Begehren haben vieles gemeinsam: Sie sind komplex und weitgehend unverstanden.
Auch Sexualität ist eine Heimat und hat das recht, gelebt zu werden
Michèle BinswangerTweet
Dass noch kein Medikament gefunden wurde, das Unlust in Lust verwandelt, könnte daran liegen, dass sich das weibliche Begehren isoliert schlecht beeinflussen lässt. Neuere Studien deuten darauf hin, dass es meist kontextabhängig ist, wobei die Lebenssituation der Frau, der Partner, das Gefühl, begehrt zu werden, eine entscheidende Rolle spielen. Genau das ist es, was vielen Frauen in einer längeren Beziehung abhandenkommt. Was sie suchen, wenn sie fremdgehen. Paradoxerweise haben viele danach auch wieder mehr Lust auf ihren Partner – eben weil sie sich wieder sexy fühlen. Oder weil der Partner, aufgerüttelt durch Verlustängste, endlich auf ihre Bedürfnisse eingeht.
Man kann chronische Unlust oder mangelnde sexuelle Zufriedenheit als körperliche "Störung" definieren und versuchen, sie chemisch zu beheben. Mein Vorschlag wäre ein anderer: Die betroffenen Frauen könnten versuchen, sich mal zu betrinken und mit einem anderen anderen Mann ins Bett zu gehen. Das dürfte ihre Unlust schneller und ohne körperliche Beschwerden beheben. Mag sein, dass diese Therapie Nebenwirkungen hat, aber vielleicht erweisen sich die ja als Anfang von etwas Neuem. Das klingt vielleicht unmoralisch und scheint dem Wunsch nach einer tiefen Partnerschaft, nach einer Familie, einer Heimat zu widersprechen. Das ist ein legitimer, menschlicher Wunsch. Doch vielleicht muss das kein Widerspruch sein. Vielleicht sollten wir einfach anerkennen, dass Sexualität auch eine Art Heimat ist und das Recht hat, gelebt zu werden. Dass wir nicht nach für uns vorgesehenen Rollen leben müssen, sondern zu unseren Bedürfnissen stehen dürfen. Einfacher werden Beziehungen dadurch nicht, aber insbesondere langjährige Partnerschaften können so lebendig bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass jede ein Kunstwerk ist, lohnt es sich, es wenigstens zu versuchen.
Angelika, 46 , Marketing-Managerin
Mit 36 verliebte sie sich in ihre große Liebe. Acht Jahre waren sie ein Paar, bevor sie beschlossen, zu heiraten. Doch dann veränderte sich alles. Ihr Mann verlor seinen Job und so seine Motivation – für alles, auch die Beziehung. Sie ging im Kostüm zur Arbeit, er lag im Trainingsanzug auf dem Sofa. Wenn sie abends nach Hause kam, hatte er nichts erlebt und nichts zu erzählen. Ihre Dialoge reduzierten sich aufs Einkaufen, Aufräumen, Putzen. Es gab auch keinen Sex mehr. "Er fand immer neue Ausreden, warum er mich nicht mehr wollte." Bis dahin wäre es für sie nie infrage gekommen, ihren Mann zu betrügen. Doch auf einem Betriebsausflug landete sie mit einem Kollegen im Bett – was sie nach dem Aufwachen bestürzte. Dämmert einem am anderen Morgen, was man getan hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Man gesteht und nimmt die Konsequenzen in Kauf. Zweitens: Man hält die Klappe und lebt mit der Lüge. Angelika betrog ihren Gatten letztendlich zwei Jahre lang systematisch mit verschiedenen Männern. Trotz ihrer Theorie, dass Fremdgehen nur eine Manifestation ihrer Eheprobleme war, fürchtete sie, ihren Mann zu verlieren. Eine Freundin sagte: "Bei mir hat es die Ehe gerettet." Angelika war skeptisch, aber begann zu begreifen, was die Freundin meinte. Ihre Liebhaber machten ihr Komplimente, interessierten sich für ihre Gedanken und Gefühle, lachten mit ihr. Sie tankte Energie, fühlte sich wieder schön und lebendig. Irgendwann beschloss sie, ihrem Mann alles zu erzählen. Sie rechnete mit allem, nur nicht mit dem, was passierte: Es war ihm egal. Fazit: Angelika mag sich unbewusst gewünscht haben, mit ihren Affären und dem Geständnis ihren Mann dazu provozieren, die Situation zu klären – und vielleicht gemeinsam neu beginnen zu können. Stattdessen klärte sie die Situation am Ende selbst und reichte die Scheidung ein.
Die Schweizer Journalistin und Bloggerin Michèle Binswanger publizierte bereits das Buch "Macho-Mamas: Warum Mütter im Job mehr wollen sollen". Mehr zu ihrem neuen Buch "Fremdgehen – ein Handbuch für Frauen"