2016 bekam sie den EMOTION.award für ihren Einsatz gegen das Ehegattensplitting. Jetzt zieht die Steuerberaterin in ihren größten Kampf: vors Bundesverfassungsgericht
"Steuerlich gesehen", sagt die sympathische Frau mit fester Stimme "ist es sinnvoller, Schweine aufzuziehen als Kinder." Ein sonniger Frühlingstag, die offene Bürotür gibt den Blick frei auf prächtige Rhododendren-Büsche im Garten. Schweine sind keine zu sehen. Westerstede im beschaulichen Ammerland, ein Landkreis am nordwestlichen Rand Niedersachsens, ist berühmt für seine Rhododendren. Na ja, zumindest unter Gärtnern. Seit einigen Jahren sorgt zudem die 54-jährige Steuerberaterin Reina Becker mit schöner Regelmäßigkeit dafür, dass ihr Heimatort in den überregionalen Medien Erwähnung findet.
Mai 2017, vor wenigen Tagen hat sie in Oldenburg einen Vortrag mit dem Titel "Schweine und Kinder im Steuerrecht" gehalten, im Rahmen der Ausstellung "Alleinstehende Mütter und ihre Lebenswelten". Ihrem Vortrag hat sie ein Zitat des Ökonomen Daniel Friedrich List von 1841 vorangestellt: "Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Kinder erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft."
Daran, sagt Becker, habe sich zumindest aus steuerrechtlicher Sicht nicht viel geändert: "Wer Schweine aufzieht, kann sämtliche anfallenden Kosten, für Stall, Futter, Medikamente und so weiter, als Betriebsausgaben steuerlich geltend machen. Bei Kindern dagegen werden nur Minimalbeträge steuerlich frei gestellt, die weit unter den tatsächlichen Kosten liegen."
Bevor jetzt alle Landwirte Schnappatmung bekommen – Frau Becker hat nichts gegen Schweine und die steuerliche Begünstigung ihrer Aufzucht. Was sie nervt, sind Ungerechtigkeit und Unverhältnismäßigkeit im Steuerrecht, die zulasten von Eltern gehen: Benachteiligung Alleinerziehender durch das Ehegattensplitting, willkürlich und zu niedrig angesetzte Kinderfreibeträge, dagegen kämpft sie seit Jahren, vor Gericht und in der Öffentlichkeit. Die Schweine sind da nur ein plakatives Beispiel.
Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Kinder erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.
Daniel FriedrichTweet
Alles beginnt im Herbst 2009. Reina Becker sitzt am späten Abend in ihrer Küche, ihre beiden Töchter, Lara, 16, und Helen, 11, liegen in ihren Betten. Die Küche ist ein Schlachtfeld. Die Arbeit im eigenen Steuerbüro im Untergeschoss, die zwei Töchter – viel Zeit für den Haushalt bleibt der alleinerziehenden Witwe da nicht. Erst recht nicht an diesem Abend. Reina Becker erstellt ihre Steuererklärung für das Vorjahr. Das Ergebnis macht sie fassungslos. Sie rechnet, immer wieder, der Abwasch muss warten.
Eigentlich hatte sie mit einer Steuerrückzahlung gerechnet, stattdessen steht eine beträchtliche Nachzahlung an. 2006 war Reina Beckers Ehemann verstorben. Für 2008 darf sie die steuerlichen Vorteile des Ehegattensplittings daher erstmalig nicht mehr in Anspruch nehmen. Das Ehegattensplitting erlaubt es verheirateten Paaren, ihr Einkommen zusammen zu versteuern: Beide Einkommen werden addiert, die Summe geteilt und die Teilsumme versteuert, in der Regel zu einem geringeren Steuersatz. Das bedeutet einen großen steuerlichen Vorteil für gut verdienende Paare, bei denen nur einer das Einkommen erwirtschaftet oder einer erheblich mehr verdient als der andere. Bei Reina Becker war das lange der Fall, ihr Ehemann war seit Jahren Rentner. Durch das Ehegattensplitting wurde die Steuer auf die Einkünfte aus ihrem Steuerbüro reduziert. Dieser Vorteil fiel jetzt weg.
"Ich musste 7300 Euro mehr Steuern zahlen, bei gestiegener Belastung, da ich ja jetzt alleinerziehend war", sagt Reina Becker. 7300 Euro mehr als ein verheiratetes Paar mit gleichem Einkommen ohne Kinder zahlen müsste. Und selbst wenn man das Kindergeld gegenrechnet, waren es noch immer ein paar Tausend Euro mehr. "Ich konnte es anfangs nicht glauben, dass das Steuerrecht kinderlose Paare derart begünstigt."
Damals hat sie noch eine weitere, makabre Rechnung aufgestellt: Wäre statt ihres Mannes eine ihrer Töchter gestorben, würde die Steuerbelastung ebenfalls deutlich geringer ausfallen. "Nach gesundem Rechtsempfinden müsste eine Alleinerziehende mit zwei Kindern doch eher weniger Steuern zahlen als eine dreiköpfige Familie mit Vater, Mutter und einem Kind", sagt Becker. Aufgrund des Ehegattensplittings sei aber das Gegenteil der Fall. Außerdem halte diese Regelung Frauen, deren Männer gut verdienen, vom Arbeitsmarkt fern. Diese Frauen riskieren Altersarmut, wenn die Ehe keinen Bestand hat.
Es lohnt sich, für seine Rechte einzustehen
Seit 2009 kämpft Reina Becker daher gegen die Windmühlen des Steuerrechts. Kämpft darum, dass Alleinerziehende steuerlich besser und damit Ehepaaren gleichgestellt werden. Eigentlich, sagt sie, sei sie dafür, das Ehegattensplitting in seiner jetzigen Form abzuschaffen. Aber juristisch bleibt ihr nur der Weg, für eine Gleichbehandlung zu streiten. "Kinder sind in Deutschland ein Armutsrisiko, ganz besonders für Alleinerziehende, und das sind meist Frauen", sagt Becker. Sie kämpft also auch für ihre Töchter. Finanzamt, Bundesfinanzgericht, Bundesverfassungsgericht: Becker hat sich durch die Instanzen geklagt, auf eigene Kosten und mit Unterstützung eines ebenfalls verwitweten Steuerberaters aus Sachsen. Es ist ihr gelungen, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren – "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Bild", "Stern-TV", "Emma" (und natürlich EMOTION) haben über Reina Becker berichtet.
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"Um so ein Verfahren zu führen, muss man ein bisschen gaga sein", sagt sie. "Es kostet Nerven – meinen ersten Gerichtstermin habe ich nur mit Betablockern durchgestanden, so nervös war ich –, Geld und vor allem sehr, sehr viel Zeit. Man braucht einen wahnsinnig langen Atem. Und die Chance zu gewinnen ist eher gering." Auch ihr Privatleben wurde in Mitleidenschaft gezogen: Eine Beziehung zu führen sei schwierig, wenn man zeitlich so eingespannt sei, sagt sie. Ihr aktueller Partner habe damit Probleme. Und für die Töchter blieb in den vergangenen Jahren oft noch weniger Zeit, ein großer Wermutstropfen für Reina Becker. Trotzdem macht sie weiter. Diese haarsträubende Ungerechtigkeit, sagt sie, sei sie nicht bereit hinzunehmen. Und ihre Töchter sind stolz auf ihre streitbare Mutter.
Dass es lohnend sein kann, sich mit Autoritäten anzulegen und für sein Recht zu kämpfen, hat Reina Becker schon als Jugendliche erfahren: Als 14-Jährige sollte die aufmüpfige Schülerin aus disziplinarischen Gründen nicht versetzt werden, obwohl sie nur eine Fünf in ihrem Versetzungszeugnis hatte. Ihre Eltern klagten, und Reina Becker durfte in ihrer Klasse bleiben. An eben dem Gymnasium, an dem viele Lehrer sie am liebsten los gewesen wären, wurde sie später zur Schülersprecherin gewählt und hat ihr Abitur gemacht.
Um so ein Verfahren zu führen, muss man ein bisschen gaga sein.
Reina BeckerTweet
Ende vergangenen Jahres konnte sie wieder einen großen Sieg vor Gericht feiern. Allerdings genau genommen auf einem Nebenkriegsschauplatz: Im Zuge ihrer Ehegattensplitting-Klage war ihr aufgefallen, dass die Berechnung der Kinderfreibeträge zu niedrig und willkürlich angelegt ist. Sie klagte erneut, und das niedersächsische Finanzgericht in Hannover gab ihr recht – die Höhe und Berechnung des Kinderfreibetrags sei möglicherweise verfassungswidrig, entschieden die Richter und legten die Klage dem Bundesverfassungsgericht vor. "Ein großer Erfolg! So etwas geschieht sehr selten", sagt Reina Becker.
Jetzt ist das Bundesverfassungsgericht am Zug. Im Januar ging dort auch Reina Beckers neueste Klage ein, sie hat Verfassungsbeschwerde gegen das Ehegattensplitting eingelegt. Mit Verweisen auf das Europarecht, das eröffnet ihr die Möglichkeit, bei einer Ablehnung auch vor dem europäischen Gerichtshof und, zu guter Letzt, vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. "Das kann noch mal spannend werden", sagt sie. "Mittlerweile fängt das Ganze sogar an, mir Spaß zu machen". Reina Becker lächelt, spitzbübisch.
Unterstützung für Alleinerziehende
Seit Kurzem ist die Kampagne "Fair für Kinder" live. Auch hier unterstützt Reina Becker. Worum es in diesem Netzwerk aus engagierten Menschen geht? Natürlich um die gerechte Behandlung von Alleinerziehenden in Deutschland. Hier könnt Ihr mehr über "Fair für Kinder" erfahren.