Autor und Coach Martin Wehrle enttarnt die Work-Life-Balance als Mythos, zeigt wie Frauen diskriminiert werden und wie Firmen auf Kosten der Mitarbeiter Geld einsparen.
Der Bestsellerautor, Journalist und Coach Martin Wehrle, 48, hat ein zweites Buch über den modernen Joballtag geschrieben: "Noch so ein Arbeitstag, und ich dreh durch! Was Mitarbeiter in den Wahnsinn treibt." Ist die Arbeitswelt überhaupt noch zu retten? Wir haben mit ihm gesprochen:
EMOTION: Erst erschien Ihr Buch "Ich arbeite in einem Irrenhaus" und jetzt "Noch so ein Arbeitstag, und ich dreh durch!" – was interessiert Sie am Wahnsinn des Joballtags?
Martin Wehrle: Als Karriereberater habe ich jeden Tag mit Menschen zu tun, die in angesehenen Firmen arbeiten. Diese erzählen mir, was hinter den Kulissen der DAX-Konzerne oder mittelständischen Unternehmen mit Gütesiegel wirklich passiert. Ich finde es spannend, was Mitarbeiter in diesen Firmen erleben und zugleich beschämend, was sie sich im Job bieten lassen müssen. Ich möchte auf der einen Seite zeigen, dass man in solchen Situationen nicht allein ist, denn es gibt viele Betroffene. Und ich möchte darauf hinweisen, dass es Wege hinaus gibt.
Warum treiben so viele Chefs Ihre Mitarbeiter in den Wahnsinn?
Erstens werden wichtige Entscheidungen oft von Managern getroffen, die die Realität aus dem Auge verloren haben. Wie etwa beim Flughafen Berlin-Brandenburg: Hier wurde ein völlig unrealistischer Eröffnungstermin festgelegt. Der zweite Grund ist ein regelrechter "Sparwahn". Unternehmer fragen sich also nicht mehr, wie sie Geld verdienen, sondern wie sie es einsparen können. Dann streichen sie Mitarbeiter oder erschweren deren Arbeitsbedingungen. Ein Beispiel aus meinem Buch: Ein Unternehmen hat den Stromverbrauch gedrosselt und anstelle von Lichtschaltern automatische Bewegungsmelder installiert. Abends möchte eine Mitarbeiterin das Gebäude verlassen und kurz bevor sie zur Treppe kommt, geht das Licht aus. Der Bewegungsmelder war auf eine zu kurze Dauer eingestellt. Sie verletzte sich ernsthaft.
Schlechte Arbeitsbedingungen dämpfen die Motivation der Mitarbeiter.
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Sie stellen in Ihrem Buch "Noch so ein Arbeitstag, und ich dreh durch! Forderungen an den Staat, die Wirtschaft und Führungskräfte, aber auch an Mitarbeiter. Was können Einzelpersonen verändern?
Diese können ganz viel verändern, denn Firmen sind ohne ihre Mitarbeiter nichts weiter als Immobilien und Fuhrpark, vielleicht noch Computer – aber keine Firmen. Mitarbeiter sind die Unternehmen. Und ich wünsche mir von denen mehr Solidarität untereinander. In einem Großraumbüro sitzen beispielsweise 30 Leute und keiner traut sich zu gehen, weil die Kollegen noch länger bleiben. Man könnte sich stattdessen absprechen und gemeinsam um 18 Uhr das Büro verlassen. Das ist völlig in Ordnung, weil die Arbeitszeit absolviert wurde. Jeder hat ein Recht auf Feierabend, die Arbeitgeber halten sich schließlich auch an die Vorschriften.
Denken anstatt zu Nicken – das bedarf Mut und Übung. Wie kann man sich von den damit verbundenen Ängsten frei machen, und die eigenen "Scheuklappen" ablegen?
Wir haben die Assoziation, dass wir uns durch ein Nein unbeliebt machen. Das beruht auf unserer frühkindlichen Erziehung und wirkt sich bis auf das Arbeitsleben aus. Frauen haben dabei mehr Hemmungen, wenn es etwa darum geht, dem Chef Überstunden abzuschlagen. Wir denken unser Ansehen würde sinken, doch das Gegenteil ist wahr! In der Chefetage zählt ein Nein zu den wichtigsten Vokabeln. Wenn jemand in der Lage ist, etwas abzulehnen und dabei gute Arbeit leistet, erhöht das seinen Respekt und er qualifiziert sich für Führungspositionen. Dazu sollten neue Verhaltensweisen im eigenen Unternehmen ausprobiert werden. Man kann sich dafür konkrete Handlungsabläufe im Kopf zurechtlegen, dann sind diese leichter umsetzbar. Außerdem hilft es, sich einen Augenblick Zeit zu nehmen. Man könnte der Chefin anbieten, in einigen Minuten auf sie zuzukommen. Ein Moment, um sich innerlich zu sammeln, aufzustellen und Nein zusagen. Wer immer nur Ja sagt, dessen Ja ist irgendwann nichts mehr wert.
Nach Ihrem ersten Buch "Ich arbeite in einem Irrenhaus" vor sieben Jahren ist wenig passiert. Glauben Sie jetzt wird es anders?
Ich hoffe es! Und die Chancen stehen gut, weil ich diesmal politische Forderungen stelle. Im "Verzeichnis der miesen Arbeitgeber" mach ich etwa öffentlich, in welchen Unternehmen nachweislich Mobbingfälle, sexuelle Belästigung oder erhöhte Burnout-Quoten auftreten. Denn wenn sich jemand bewirbt, darf derjenige auch erfahren, was sich intern abspielt. Meine nächste Forderung lautet: Unternehmen mit hohen Gewinnen sollen den unterbezahlten Branchen einen Solidaritätsbeitrag beisteuern. Die großen Kapitalgesellschaften in Deutschland haben seit 1991 ihre Gewinne verdreifacht, die Gehälter sind aber gleich geblieben. Kranken- sowie Pflegeberufe und Kinderbetreuung könnten mit diesem Geld endlich angemessen bezahlt werden. Ich denke der Zeitpunkt für das Buch liegt gut. Zum einen aufgrund des Fachkräftemangels und zum anderen, weil die junge Generation heute selbstbewusster verhandelt. Dabei sind auch ihre Vorstellungen anders: Sie fordern eher einen weiteren freien Tag in der Woche, als eine Beförderung.
Mein Buch kann etwas bewirken. Doch was es noch bedarf, ist politischer Wille.
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Ihr neues Buch ist ein Plädoyer für eine gerechtere Arbeitswelt. Warum haben wir diese verloren? Gab es diese jemals?
Doch, die gab es! Etwa in der Nachkriegszeit. Damals wurden viele Familienunternehmen gegründet, wo die Angestellten mitbestimmen durften und ihnen hohe Gehälter gezahlt wurden. Da waren einzelne Menschen etwas wert. Wir finden heute dagegen eine Arbeitswelt vor, in der es darum geht, möglichst rasch viel Geld zu verdienen. Die Folge sind irrationale Entscheidungen. Ich kenne Kapitalgesellschaften, in denen für die Produktion wichtige Maschinen ausfallen, die aber erst nach einem Monat ersetzt werden, damit die Quartalszahlen stimmen. Eine Entscheidung gegen die Interessen des Unternehmens, nur um gute Zwischenzeiten vorzulegen. Wir müssen wieder zu einer Arbeitswelt kommen, wo nicht nur die Menschen der Arbeit dienen, sondern die Arbeit den Menschen dient. Unternehmen wird in Deutschland viel geboten, sie sollten der Gesellschaft deshalb etwas zurückgeben und ihre Mitarbeiter fair bezahlen.
Die Deutschen machen im Jahr etwa 1,8 Millionen Überstunden. Ist die Work-Life-Balance somit ein Mythos?
Work-Life-Balance ist ein Mythos! Das Wort vermittelt, dass es einerseits das Leben und andererseits die Arbeit gäbe, doch das ist nicht so. Wenn eine Person im Job unzufrieden ist, wird sie es auch privat sein, weil die Arbeit einen großen Teil des Lebens ausmacht. Beides gehört zusammen. Heute ist es unsere Herausforderung, der Arbeit wieder Grenzen zu setzen. Durch das Smartphone sind wir nahezu immer am Arbeiten: Wir checken Mails am späten Abend oder nehmen berufliche Anrufe entgegen. Die Arbeit hat sich wie ein Trojanisches Pferd in das Leben der Menschen geschlichen. Im Schlafzimmer, im Urlaub – wir arbeiten überall. Mein Tipp: wenn ich abschalten will, muss ich manchmal auch die Geräte abschalten, die mich mit der Firma verbinden.
Mütter sollen im Job gerechter behandelt werden. Wie stellen Sie sich das vor?
Eine Frau sollte nachdem sie ein Kind bekommen hat, nicht bei Null anfangen müssen. Als hätte sie in dieser Zeit nichts erlebt, nichts geleistet. Sie hat natürlich etwas gelernt! Mütter müssen als Autoritätspersonen auftreten, in Krisensituationen schnell reagieren, mit einem begrenzten Budget auskommen. Erziehung steckt voller wertvoller Elemente, die angerechnet werden müssen. So sollten Mütter die gleichen Karrierechancen haben, wie diejenigen die währenddessen berufstätig waren. Wenn ein Mann sagt, er werde Vater, dann klatschen und gratulieren alle. Er wird als äußerst motiviert eingeschätzt, weil er jetzt eine Familie versorgen muss. Verkündet eine Frau dagegen, dass sie schwanger ist, streicht man sie schon gedanklich aus dem Karrierenetzwerk. Doch Familie und Karriere müssen in einer modernen Gesellschaft kein Widerspruch seien.
Männer müssen umdenken und Frauen den nötigen Respekt erweisen!
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Sie zweifeln also daran, dass Frauen gerecht behandelt werden. Woran könnte das liegen?
Ein Blick in die Gehaltsstatistik oder die Statistik der Führungsfrauen genügt: Frauen werden im Beruf definitiv nicht gerecht behandelt. Das liegt zuerst an den männlichen Strukturen der Arbeitswelt. Lange Anwesenheit wird in der Firma oft mit Arbeitsleistung verwechselt. Wenn man Karriere machen will, sollte man demnach einfach so lange dableiben wie der Chef. Ich kenne aber viele Frauen, die sehr effektiv arbeiten und bis 17 Uhr mehr geschafft haben, als der Kollege, der um 20 Uhr heldenhaft aus dem Büro schreitet. Ein zweiter Punkt sind die männlichen Netzwerke. Männer gehen oft nach der Arbeit oder nach der Konferenz noch ein Bier trinken. Und diese Männergruppen schieben sich frei werdende Jobs zu. Frauen sind häufig schlechter vernetzt und kooperieren oft nicht miteinander. Aus einer Studie geht hervor, dass nicht einmal zehn Prozent der Frauen gerne eine Chefin hätten. Die Anerkennung weiblicher Führungskräfte ist bei Männern dagegen deutlich höher. Ein Problem, das also nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen ausgeht.
Frauen gelten entweder als zu weich oder als Zicke. Wie können wir dem entgegen wirken?
Ich glaube, da sollten wir einfach neue Gewohnheiten schaffen. Wenn ein Mann in einem Meeting eine entschiedene, lange Rede hält, dann sagt man, er ist eloquent. Spricht eine Frau dagegen so, hat sie Haare auf den Zähnen. Warum? Weil man von Frauen dieses offensive Verhalten weniger gewohnt ist. Da hilft es, wenn Frauen die männlich geprägten Muster in Unternehmen erst einmal annehmen. Laut Reden wirkt nun mal, aber wenn sie dann in leitenden Positionen sind, haben sie die Möglichkeit, die Arbeitswelt weiblicher zu gestalten. So dass es nicht mehr auf den Dienstwagen oder das Reisen in erster Klasse ankommt, sondern auf Leistung und Persönlichkeit.
Eine weiblichere Arbeitswelt könnte das Statusgetue abschaffen.
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Sie wünschen sich in Unternehmen mehr Menschlichkeit statt Wachstum. Ist das mit unserer Welt vereinbar?
Die Welt ist von uns gemacht, also können wir auch die Spielregeln bestimmen. Schaut man sich die Deutsche Bahn an: Diese hat ihren Personalbestand so stark gekürzt, bis es am Mainzer Bahnhof fast keine Mitarbeiter mehr gab. Andererseits expandiert das Staatsunternehmen nach China. Man sollte doch eher die Angestellten in Deutschland angemessen bezahlen und dafür sorgen, dass die Fahrpläne funktionieren. Wer gibt denn vor, dass die Deutsche Bahn rund um den Globus fahren muss? Anstelle der Gewinnsteigerung könnte diese das Arbeitsumfeld menschlicher gestalten, die eigenen Mitarbeiter zufriedenstellen und das eigene Image aufbessern. Da tragen auch Kunden Verantwortung, indem sie nicht mehr das Billigste kaufen, sondern darauf achten, wie eine Firma mit ihren Mitarbeitern umgeht.
Ist die Arbeitsweilt noch zu retten? Wie könnte diese nach Ihren Vorstellungen zukünftig aussehen?
Das wäre eine Welt, in der nicht nur Unternehmen profitieren, sondern auch die Mitarbeiter. Profitieren heißt hier nicht nur Verdienst. Doch wenn ein Unternehmen wächst und mehr Gewinn macht, sollten auch die Arbeitnehmer daran beteiligt werden. Die Qualität einer Gesellschaft lässt sich daneben auch an Lebenszufriedenheit messen. Die Gesamtzufriedenheit ist entschiedet – nicht die Zahlen.