Teil vier unserer Interview-Serie zur Bundestagswahl: EMOTION Chefredakteurin Katarzyna Mol-Wolf im Gespräch mit Katja Kipping, Co-Vorsitzende der Partei Die Linke
Katja Kipping, Co-Vorsitzende der Partei Die Linke, hat ins Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung eingeladen, um eine Studie zum Thema "Sabbatical" vorzustellen. Ich bin aber vor allem hier, um mit ihr über Solidarität unter Frauen zu sprechen.
Dr. Katarzyna Mol-Wolf: Frau Kipping, Ihr Machtkampf mit Sahra Wagenknecht hat für Schlagzeilen gesorgt. Wie schafft man es, nach öffentlichen Auseinandersetzungen im Wahlkampf an einem Strang zu ziehen?
Katja Kipping: Solidarität, vor allem in dem Sinn sich gegenseitig zu stärken, gehört für mich zur politischen Praxis. Aber Solidarität unter Frauen heißt nicht, dass wir über alles rosa Zuckerguss gießen. Denn Kontroversen sind ein Teil der politischen Auseinandersetzung – und die werden bei uns transparent ausgetragen. Da kämpfe ich für meine Überzeugungen. Zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage. Und ich denke, im Wahlprogramm steht unsere Position dazu nun verbindlich fest: Wir streiten für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft.
Dass Frauen im Kommen sind, dafür war Ihre Partei auch Vorbild. Brauchen wir in der Politik mehr Frauennetzwerke?
Unbedingt. Gerade gibt es ja einen unglaublichen Kulturkampf von rechts, der alle Errungenschaften der Frauenbewegung zurückdrehen will. Es geht nicht allein darum, reine Machtnetzwerke aufzubauen. Ich habe mich zum Beispiel mit Frauen in einer Dialektikgruppe zusammengetan. Einmal im Jahr machen wir eine Weiterbildung, natürlich alles selbst bezahlt – wir gönnen uns den intellektuellen Luxus, eine Woche lang zusammen Texte durchzugehen, damit unsere Arbeit inhaltlich und strategisch fundiert ist.
Funktionieren die Netzwerke von Frauen anders als die von Männern?
Ja, und ich glaube, da muss es viel stärker eine Ermutigung geben. Bei uns gibt es eine strenge Quotierung für die Gremien. Jeder Parteivorstand ist quotiert, Doppelspitzen sind bei uns quotiert und es gab trotzdem manchmal Situationen, in denen plötzlich "die Checker" am Rande von Sitzungen Sachen besprachen. Das war gar keine Verschwörung, aber wundersamerweise standen da auf einmal nur Typen, obwohl in dem Gremium, das am Ende die Entscheidung treffen muss, auch Frauen sitzen. Ich bin dann einfach da mit hingegangen und habe gesagt "Los Jungs, los geht's!". Und ich glaube, inzwischen haben wir auch dadurch, dass wir so viele starke, selbstbewusste Frauen haben, eine Kultur, von der die Jungs wissen, dass es ohnehin nichts bringt, wenn sie allein etwas aushandeln.
Brauchen Frauen mehr Vorbilder?
Für mich ist das ein Begriff aus dem 20. Jahrhundert. Eine Person, die eine Heldin ist, das würde ich jetzt nicht sehen. Natürlich gab es einzelne Frauen, die mich fasziniert haben. Etwa die Schriftstellerin Christa Wolf, oder Frigga Haug, eine Feministin und Marxistin. Ich habe viel von ihr und ihren Werken gelernt, auch im strategischen Vorgehen. Aber ja, auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit hilft es, dass Mädchen heute sehen, man kann Tänzerin werden – meine Tochter geht jetzt auch in einen Ballettkurs –, aber eben auch Bundeskanzlerin oder Fußballerin.
Wie verändert man Stereotype?
Unsere Parteitage beginnen jetzt zum Beispiel mit einem Frauenplenum. Bevor die Männer am Mikrofon stehen, eignen sich erst mal die Frauen das Mikro und damit auch den Saal an. Bei uns wäre es durchaus möglich, dass zwei Frauen an der Spitze stehen, aber zwei Männer, das ist nicht mehr möglich. Ich bin in einer sehr anspruchsvollen Situation Parteivorsitzende geworden. Meine Tochter war sieben Monate alt, die Partei war heillos zerstritten und in den Umfragen unter 5 Prozent. In der Zeit sind Bernd Riexinger und ich Vorsitzende geworden. Ich habe echtes Glück mit den Männern, mit denen ich mir meine Aufgaben fifty-fifty teile, zu Hause mit meinem Mann, und in der Partei mit Bernd Riexinger.
Zur Übersichtsseite unserer Aktion #wasfrauenfordern.
Dass Sie für die 30-Stunden-Wochen streiten und dafür plädiert haben, dass Termine nach 16 Uhr die Ausnahme sein sollten, hat Wellen geschlagen. Erleben Sie es in der Politik auch, dass das Thema Work-Life-Balance bei Männern und Frauen vollkommen anders thematisiert wird?
Ja. Als ich Parteivorsitzende wurde, hat mich jemand gefragt, ob man jetzt das Jugendamt informieren muss, weil ja offensichtlich die Vernachlässigung meiner Tochter drohe. In einem Spiegel-Interview mit Ursula von der Leyen hieß es mal: "Haben Sie denn Zeit für Ihre Kinder?" – "Ja natürlich lese ich ihnen Gute-Nacht-Geschichten vor." – "Das heißt, als Ministerin sind Sie gar nicht immer präsent?" – "Nein, ich leiste 90 Stunden die Woche." Es war vollkommen klar: entweder Rabenmutter oder faule Ministerin. Da habe ich mir gesagt, in dem Moment, wo ich anfange, mich zu rechtfertigen, habe ich verloren.
Ignorieren Sie das jetzt?
Ich gehe offensiv mit der Frage um. Nicht ich muss mich entschuldigen, wenn ich mein Kind um 17 Uhr aus der Kita abholen will, sondern wenn wir so spät Termine setzen. Es gibt ja auch Mitarbeiter, die Kinder haben, die in der Kita auf sie warten. Jeder Vater, der ein Führungsamt hat und 90 Stunden die Woche arbeitet, setzt damit einen Standard, der nur zu halten ist, wenn man die komplette Erziehungsarbeit auf den Partner, in dem Fall die Frau, abwälzt. Also sollten sich alle entschuldigen, die solche kinderunfreundlichen Standards setzen und nicht Frauen wie ich, die beides vereinen aktive Elternschaft und Führungsposition.
Wie sieht in Ihren Augen das perfekte Gleichstellungsgesetz aus?
Zunächst braucht es eine Veränderung der kulturellen Standards und Selbstverständlichkeiten. Ein Gleichstellungsprogramm müsste folgende Punkte beinhalten: eine gesellschaftliche Offensive für Arbeitszeitverkürzung, so dass die Arbeitswoche eher um 30 Stunden für Männer und Frauen kreist. Dann haben Männer mehr Zeit für Familienarbeit. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, die Gender Pay Gap zu schließen, auch im Hinblick auf die Rente. Dann setze ich mich dafür ein, dass keiner unter eine Mindestsicherung von 1050 Euro fällt, egal ob in der Rente oder der Erwerbslosigkeit. Das sind Maßnahmen, von denen überproportional stark Frauen profitieren. Außerdem muss es überall wohnortnahe Kitas mit guten Öffnungszeiten geben. Nicht nur für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern auch für die frühkindliche Bildung der Kinder.
Die Idee, alle meine Angestellten könnten eine 30-Stunden-Woche wollen, stresst mich ein bisschen. Wie wollen Sie die Unternehmer ins Boot holen?
Sechs Stunden am Tag aber dafür konzentriertere Leistung und ein geringeres Erkrankungsrisiko, sowie Beschäftigte, die auch ein glückliches Privatleben haben – das ist am Ende auch für die Unternehmen besser. Wir wissen heute, dass Stress und Überarbeitung zentrale Ursachen für Burnout und andere stressbedingte Erkrankungen sind. Generell streite ich für eine Gesellschaft mit einem Grundeinkommen, guten Stundenlöhne und mit kürzerer Vollzeit als Standard.
Sie fordern mehr Ganztagskitas. Eine Bertelsmann-Studie sagt, das bräuchte 120 000 weitere Erzieher. Da wünschen Sie sich eine gute Ausbildung, gern auf Hochschulniveau. Wie wollen Sie das erreichen?
Menschen im Schichtdienst brauchen auch gute Betreuung für ihre Kinder. Doch mein Ziel ist ja gar nicht, dass die Kinder im Schnitt unbedingt länger in die Kita müssen. Wenn die Arbeitswoche um die 30 Stunden kreist, kann auch der Vater die Kleinen viel häufiger mal am Nachmittag abholen. Das Ziel ist, dass die Leute, die tagsüber auf unsere Kinder aufpassen und ihnen ganz viel mit auf den Weg geben, gut bezahlt werden. Das ist die wichtigste Investition in die Zukunft. Wenn es stimmt, was unter Arbeit 4.0 diskutiert wird, so stehen sowieso große Umbrüche an. Klassische Arbeitsplätze werden wegfallen und es wird einen größeren Bedarf an Arbeit mit Menschen geben, sowohl in der Altenpflege als auch in der Kinder- und Erziehungsarbeit. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung, die uns bevorsteht. Deshalb muss man dafür sorgen, dass die Berufe entsprechend attraktiv sind. Auch um mehr Männer in diese Bereiche zu bringen.
Wie wollen Sie das finanzieren?
Wir sind für die Umverteilung von privatem Reichtum hin zu besser ausgestatteten öffentlichen Kassen. Wenn du willst, dass Kitas gut ausgestattet sind, brauchen die Kommunen mehr Geld. Deshalb wollen wir Vermögen über eine Million mit fünf Prozent besteuern. Im Pflegebereich haben wir die Vorstellung von einer solidarischen Pflegeversicherung, in die alle einzahlen, dann ist mehr Geld im System auch für Personal.
Es gibt zig Erklärungen, wieso Frauen und Männer nicht den gleichen Lohn erhalten. Was wollen Sie dagegen tun?
Das ist auch eine Aufgabe der Tarifparteien. Die Gewerkschaften sind in der Pflicht, dafür zu kämpfen, dass Berufe, in denen überproportional viele Frauen arbeiten, besser entlohnt werden. Und Transparenz muss möglich sein, das darf nicht, wie beim jetzigen Gesetzentwurf an der Betriebsgröße hängen.
Wenn Sie eine Sache umsetzen könnten für Frauen, was wäre das?
Die Wurzel der Geschlechterungerechtigkeit liegt in der ungerechten Verteilung der Tätigkeiten. Ich würde alles in die Wege leiten, damit mehr der alltäglichen Erziehungs- und Pflegearbeit in Männerhand wechselt und im Gegenzug mehr Frauen einer gut bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen können.
Trauen wir Frauen den Männern das zu?
Es gibt inzwischen junge Väter kleiner Kinder, die wunderbar beweisen, dass sie das können. Da verschiebt sich inzwischen auch etwas. Das Leitbild ist nicht mehr, dass derjenige der tolle Hecht ist, der die Familie allein ernährt und von Haushalt und Kindererziehung keine Ahnung hat, sondern das Leitbild ist inzwischen der Mann, der sich mit Selbstverständlichkeit partnerschaftlich auch Haus- und Erziehungsarbeit teilt.
Von der IWF-Direktorin Christine Lagarde gibt es zahllose Bilder im Kostüm inmitten von lauter Anzugträgern. Danach befragt sagte sie, auf dem Weg nach oben müssten Frauen sich einen Krokodilpanzer zulegen, und wenn sie angekommen seien, dann sei es wichtig, den wieder abzustreifen und Frau zu werden. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Ich würde eher sagen, die große Aufgabe besteht darin, von Anfang an keine Einzelspielerin zu sein, sondern immer als Teamspielerin mit Leuten für die Veränderung der Verhältnisse zu streiten. Eine Gesellschaft, in der niemand – weder Männer noch Frauen – einen Krokodilpanzer brauchen, um in wichtigen, einflussreichen Positionen zu sein. Das ist das, wofür ich kämpfe und von dem ich glaube, dass es etwas ist, wovon nicht nur Frauen profitieren, sondern auch Männer. Wir wollen doch nicht, dass nur Typen, die durch nichts berührt werden in der Gesellschaft das Sagen haben, sondern Leute, die auch mal sagen: "So, jetzt reicht’s mir, jetzt heule ich erst mal."
Haben Sie solche Situationen erlebt?
Natürlich gab es heftige Auseinandersetzungen, wo ich gesagt habe, jetzt muss ich mich mal ein paar Tage mit meiner Lieblingsserie oder mit meinem Lieblingsbuch zurückziehen. Aber dadurch, dass ich immer auch im Team mit anderen Leuten agiert habe und nie eine Einzelspielerin war, wurde ich auch emotional aufgefangen. Und ich habe etwas von Frigga Haug gelernt, was ich sehr hilfreich finde: Wenn man mal einen Rückschlag erlebt oder eine Niederlage, hilft es nicht, sich an der Verletzung zu weiden, sondern es ist besser, das als ein Lehrstück zu betrachten, um besser aufgestellt zu sein für die nächste Auseinandersetzung.
Was frauen fordern
Wir wollen, dass am Morgen der Bundestagswahl eines sicher ist: Frauen sind gehört worden! Unsere Leben, unsere Wünsche, unsere Ideen sind nicht "Frauen, Familie und Gedöns", wie Gerhard Schröder einmal sagte, sondern entscheidend für die Zukunft dieses Landes. Deshalb starten wir die Aktion: #wasfrauenfordern.
In einer großen, bundesweiten, altersübergreifenden Umfrage werden wir nach Ihren Forderungen fragen. Konkret und direkt. Denn das ist der EMOTION-Weg: nichts vorsetzen, sondern hinhören. Klicken sie auf wasfrauenfordern.de und werden sie Teil der größten Aktion, die EMOTION je umgesetzt hat. Ihre Meinung ist uns wichtig! Wir sind viele! Begleitet wird unsere Aktion von einer Interviewreihe mit Politikerinnen.
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