Sie hat das Unfassbare erlebt: IS-Terroristen überfielen ihr Dorf, töteten ihre Familie. Sie selbst wurde als Sex-Sklavin verschleppt. Seit ihrer Flucht berichtet Nadia Murad von den Gräueltaten des IS – in Vorträgen und in ihrem Buch.
Wenn Nadia Murad eine Wahl gehabt hätte, wäre sie nie berühmt geworden. Die zierliche Frau mit den schwarzen Haaren und den dunkelbraunen Augen hätte weder vor den Vereinten Nationen gesprochen noch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Papst Franziskus oder die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney getroffen. Wenn Nadia Murad eine Wahl gehabt hätte, würde sie noch immer in einem jesidischen Dorf namens Kocho in der Nähe der nordirakischen Stadt Sindschar leben. Sie würde Schafe melken, Zwiebeln ernten und vielleicht eines Tages ihren Wunsch wahrmachen und einen Kosmetiksalon eröffnen. Sie würde ein einfaches, aber glückliches Leben führen.
Doch Nadia Murad hatte keine Wahl. Am frühen Morgen des 3. August 2014 überfielen IS-Kämpfer Kocho. Sie luden die Männer des Dorfes auf Laster, brachten sie zu einem Graben und erschossen sie. Die Jungen wurden gekidnappt, einer Gehirnwäsche unterzogen und als Kindersoldaten oder Selbstmordattentäter nach Syrien geschickt. Die Mädchen, auch Nadia Murad, deportierten die Terroristen in die damalige Islamistenhochburg Mossul, wo Tausende jesidische Frauen und Kinder als Sexsklavinnen verkauft wurden. Drei Monate lang war die damals 20-Jährige in der Gewalt des IS, wurde geschlagen, gedemütigt und immer wieder vergewaltigt. Nach einem missglückten Fluchtversuch verging sich gleich eine ganze Gruppe von Männern an ihr. Durch einen glücklichen Zufall gelang es ihr am Ende, dem IS zu entkommen.
Ein Abend im Sommer 2017, der Veranstaltungssaal des Körber-Forums in Hamburg ist bis auf den letzten Platz besetzt. Nadia Murad ist als Interview-Gast geladen. Zwei Strähnen ihrer hochgesteckten Haare fallen in ihr Gesicht, sie trägt ein enges braunes Kleid und sieht aus wie eine dunkle, schöne Prinzessin aus 1001 Nacht. Wäre da nicht die allumfassende Traurigkeit, die sie umgibt. Die in jedem Blick, jeder Geste mitschwingt. Nadia Murad verlor bei dem Überfall auf ihr Dorf 44 Familienmitglieder, darunter ihre Mutter und sechs Brüder. Sie trägt einen tiefen Schmerz in sich, den man ihr ansehen kann. Auf die Idee, sie beschützen zu wollen, würde trotzdem niemand kommen. Denn die 24-Jährige, die auf den ersten Blick so zerbrechlich wirkt, hat immer wieder gezeigt, wie stark sie ist. Sie hat beschlossen, der Welt ihre Geschichte zu erzählen. Und auf das Unrecht aufmerksam zu machen, das noch immer an ihrem Volk begangen wird.
Von Islamisten werden die Jesiden als Teufelsanbeter betrachtet, weil sie Melek Taus verehren, den Engel Pfau, der in Gottes Auftrag die Welt erschuf. Jesiden missionieren nicht, aber sie bleiben für sich, weil sie nur innerhalb ihrer Gemeinschaft heiraten dürfen. Von den Islamisten werden sie bis heute unterdrückt, gequält, verfolgt.
"Die Männer haben alles mit mir gemacht, was man sich vorstellen kann", sagt Nadia Murad an diesem Abend – und das klingt schlimmer, als wenn sie dabei ins Detail gehen würde. Viele Mädchen und Frauen, die das gleiche erlebt haben, würden sich schämen, über die Vergewaltigungen zu sprechen. "Auch ich möchte das alles am liebsten vergessen." Aber davon zu berichten sei wichtig, damit das, was ihrem Volk angetan werde, nicht in Vergessenheit gerät. "Ich habe noch immer die Hoffnung, dass Hilfe kommt."
Ihre Worte sind eine Waffe, die Nadia Murad einsetzt, sooft sie kann. Wenn sie von dem Völkermord erzählt, tut sie das sachlich und nüchtern – genau deshalb hören die Menschen ihr zu. Er sei "zu Tränen gerührt", vom Schicksal der jungen Frau, aber auch von "ihrer Kraft, ihrem Mut und ihrer Würde", sagte der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, als die Vereinten Nationen die ehemalige IS-Gefangene im Jahr 2016 zur Sonderbotschafterin ernannten. Sogar für den Friedensnobelpreis wurde Murad im vergangenen Jahr nominiert. Und die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney unterstützt sie inzwischen bei ihrem Kampf. Wie sehr die Jesidin andere für sich einnehmen kann, wird auch in Hamburg deutlich: Die Besucher hören ihr gebannt zu und stellen anschließend noch lange Fragen.
"Ich will den Terroristen ein Stück Macht entreißen."
Am nächsten Morgen steht Nadia Murad in der Lobby eines kleinen Hamburger Hotels. Ihr Händedruck ist schwach, ihre Stimme leise. Und doch spürt man auch jetzt eine Kraft, die von ihr ausgeht, eine Entschlossenheit, mit der es ihr gelingt, Regierungschefs auf der ganzen Welt zu erreichen. Wie sie es schafft, ihre Geschichte wieder und wie- der zu erzählen? Und all das, was sie durchgestanden hat, stets von Neuem zu durchleben? Nadia Murad antwortet in ihrer Muttersprache Kurmandschi und schaut ihr Gegenüber so direkt an, als sei sie davon überzeugt, man würde jedes Wort verstehen, schon bevor ein Dolmetscher es ins Deutsche übersetzt. "Wenn ich darüber spreche, habe ich das Gefühl, den Terroristen ein Stück ihrer Macht zu entreißen", sagt sie. Sie habe nicht das Gefühl, stark zu sein, und wolle auch keine Rache. Es klingt unglaublich, dass sie das sagt, vor allem, wenn man dabei die Narben auf ihren Armen anschaut, die die Terroristen ihr mit brennenden Zigaretten zugefügt haben.
"Als Gefangene hat man die Energie verloren, sich zu wehren."
Ihre schlimmste Vorstellung ist, dass die Männer, die all diese Verbrechen begangen haben, sich eines Tages ihre Bärte abrasieren und ungestraft davonkommen. "Sie müssen vor Gericht gestellt werden", fordert sie. Darum kämpfe sie jeden Tag. "Ich glaube, dass der IS eine Gefahr für uns alle ist", sagt sie, "auch islamische Länder müssen sich gegen den Terrorismus stellen." Um auf diese Bedrohung aufmerksam zu machen, hat Nadia Murad "Ich bin Deine Stimme" geschrieben. Darin erzählt sie, wie sie die IS-Gefangenschaft erlebt hat: „Der eigene Körper gehört einem nicht mehr, und man hat die Energie verloren, zu reden, sich zu wehren oder über die Welt da draußen nachzudenken.“ Sie beschreibt auch ihre Fassungslosigkeit darüber, dass die Menschen in Mossul ihr Leben ganz normal weiterleben. Dass sie auf dem Markt einkaufen, ihre Kinder ins Bett bringen – während die Schreie der misshandelten Frauen über die Straße hallen. Es sind Sätze wie von Opfern der Nazi-Zeit. Und genau diese Parallele ist so erschreckend: Die wahnhafte Idee, ein gesamtes Volk zu erniedrigen und auszulöschen, weil es an einen "falschen" Gott glaubt. "Es war sehr schwierig, über mein Leben und das Leben meiner Familie zu schreiben", sagt sie. Es ist ein sehr persönliches Buch geworden, eines, das man atemlos liest, so schrecklich die Details, die sie schildert, auch sind. Sie wünscht sich, dass es vor allem von Jugendlichen wahrgenommen wird, gerne auch von denen, die davon träumen, sich dem IS anzuschließen. Sie möchte zeigen, wie skrupellos die Terrororganisation wirklich ist.
Sie beschreibt ebenfalls, wie ihr mithilfe einer muslimischen Familie die Flucht nach Kurdistan gelang. 2015 kam sie nach Deutschland, wo sie seitdem mit einer ihrer Schwestern wohnt. Ein Leben zu führen, in dem sie sich nur um ihre eigene Zukunft kümmert – für Nadia Murad ist das im Moment unvorstellbar. Eine Therapie, um das Trauma zu verarbeiten, hat sie bisher nicht gemacht. Die Arbeit sei ihre Therapie, sagt sie. Den Traum, einen eigenen Kosmetiksalon zu eröffnen, musste sie zunächst aufgeben: "Ich wollte Frauen hübsch machen. Aber die Jesidinnen brauchen etwas anderes als Make-up." Sie möchte erreichen, dass eine internationale Schutzzone im Irak eingerichtet wird, in der die Jesiden friedlich leben können. Aber auch den Wunsch, Frauen durch Schönheit eine Art von Heilung zu ermöglichen, verfolgt sie noch immer.
Als besonders gläubig empfindet sie sich nicht, und doch ist es auch ihre Religion, die ihr Trost spendet, wenn die Situation aussichtslos erscheint. Noch immer befinden sich mehr als 3000 Frauen in der Gewalt der Terrormiliz. Darauf, dass die Taten vor einem internationalen Gericht angeklagt werden, wartet Nadia Murad bis heute. "Wenn die Menschen die Täter nicht anklagen, dann mache ich das innerlich, dann klage ich sie bei Gott an", sagt sie.
Vor ein paar Monaten ist sie nach Kocho gereist, hat ihr zerstörtes Dorf gesehen, ein Ort, an dem es keine Kinder mehr gibt. Sie hat die Verwüstung gesehen, die der IS angerichtet hat. Es war gefährlich, durch das Dorf zu gehen, sie wurde dabei von Sicherheitsleuten beschützt. Der Besuch hat ihr klargemacht, dass es vorerst kein Zurück gibt.
Kann sie sich vorstellen, eines Tages eine Familie zu gründen? "Yes", antwortet sie, ohne die Übersetzung abzuwarten. Es ist das erste Mal, dass ein Lächeln über ihr Gesicht fliegt. Sie träume immer davon, in ihr Dorf zurückzukehren, sagt sie leise. Das ist der Ort, an dem sie ihr Leben verbringen wollte, hätte sie eine Wahl gehabt.
Der Völkermord an den Jesiden
Der Volksgemeinschaft gehören weltweit etwa 800 000 Menschen an. Die religiöse Minderheit wird wegen ihres Glaubens diskriminiert: die Anhänger der Terrororganisation Islamischer Staat sehen ihre Mitglieder als „ungläubige“ an. Die Jesiden verehren Melek Taus und haben kein Buch, in dem ihre Religion niedergeschrieben ist, alle Inhalte werden mündlich überliefert.
Bei einem Überfall im August 2014 auf jesidische Dörfer im Nord-Irak töteten IS-Kämpfer mindestens 5000 Menschen. Tausende Frauen und Kinder wurden verschleppt, gefoltert und missbraucht. Der Völkermord, den die Vereinten Nationen daraufhin förmlich feststellten, dauert bis heute an.
Viele Jesiden haben den Irak verlassen und leben in Flüchtlingslagern. Etwa 150 000 haben inzwischen in der Bundesrepublik Zuflucht gefunden.