In der Fülle an Neuerscheinungen verliert man schnell den Überblick. Deshalb hier drei Bücher, die unbedingt bald auf Ihrem Nachtkästchen liegen sollten, empfohlen von Lektorin Miriam Seifert-Waibel
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von Lektorin Miriam Seifert-Waibel
Simone de Beauvoir: "Sie kam und blieb" (Rowohlt)
Ménage à trois in den schillernden Kreisen der Pariser Bohème der 1930er Jahre. Die Schriftstellerin Françoise und der Schauspieler und Regisseur Pierre leben eine unkonventionelle Beziehung: Sich vollständige Ehrlichkeit entgegenbringend, glauben sie an das Prinzip größtmöglicher Freiheit, auch in der Liebe. Und während Pierre dies voll auslebt, ist Françoise ihm freiwillig treu, in ihrem Leben ist "kein Raum für eine andere Liebe". Als die junge, launische Provinzschönheit Xavière in ihr Leben tritt, gerät das bisher stabile Gleichgewicht ins Wanken. Françoise wird mit Gefühlen konfrontiert, die sie nicht kannte – und ihr Selbsterhaltungswille treibt sie schließlich zum Äußersten.
Simone de Beauvoir, die Ikone des Feminismus, reflektiert in ihrem 1943 erschienenen Romanerstling die Prinzipien ihrer Beziehung zu Jean-Paul Sarte. Nebenbei sei erwähnt, dass sie Sartres Affäre mit ihrer Schülerin Olga Kosakiewicz verarbeitet. "Sie kam und blieb" ist aber keinesfalls als persönliche Abrechnung zu sehen. Faszinierender als die autobiografischen Details ist der Blick auf die existenzialistischen Theorien, für die sowohl Sartre als auch Beauvoir stehen: Nichts ist vorbestimmt, vielmehr "ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist". Diese Freiheit des Willens und Handelns auf allen Ebenen des Zusammenlebens ist der rote Faden des Romans.
Und selbst, wenn sich Françoises Handeln wohl weder mit unseren eigenen moralischen Ansprüchen, noch denen des Existenzialismus decken dürfte, atmet man doch auf, wenn sie sich schließlich aus ihrer Passivität löst und es am Ende heißt: "Ihr Wille vollzog sich in diesem Augenblick, nichts trennte sie mehr von sich selbst. Sie hatte endlich gewählt. Sie hatte sich gewählt."
Die Unmittelbarkeit von Beauvoirs Sprache und Erzählkunst hat mich vollends gefangen genommen. Dieser Roman ist nicht nur intelligent, vor allem ist er auch unglaublich fesselnd, aufreibend – bedingungslos.
#image4625leftHerman Koch: "Angerichtet" (Kiepenheuer & Witsch/Argon)
Vier Plätze im Sternerestaurant: Ein erfolgreicher Politprofi, sein Bruder und deren Frauen sind hier zum Essen verabredet. Die Stimmung zwischen den Männern ist angespannt, denn der "Normalo" Paul Lohman ist genervt von der Selbstinszenierung seines berühmten Bruders. Die Konversation plätschert oberflächlich dahin und der eigentliche Grund des Treffens wird im Gespräch zunächst vermieden: Die jugendlichen Söhne der beiden Paare haben eine Tat begangen, die ihr Leben zu zerstören droht. Alle am Tisch wollen offenbar das Beste für ihre Kinder. Doch an der Frage, was dieses Beste sei, scheiden sich die Geister in drastischer Weise. Im Verlauf des Abends kochen die Emotionen rund um diese Frage immer mehr hoch, eine Entscheidung fällt und das Ganze gipfelt in einem Fiasko.
Mein Eindruck nach dem mit "Aperitif" überschriebenen Auftakt: leichte Kost, nichts, was mich fesseln wird – keine langen Nächte. Was für ein Trugschluss! Die Sogwirkung, die sich in den folgenden Kapiteln entwickelt, ist unvergleichlich. Und es ist nicht etwa so, dass der Autor erst im Laufe des Romans zu Höchstform gelangt. Nein, vielmehr haben wir es hier mit einem wohl kalkulierten, hervorragend komponierten Werk zu tun, das mich angesichts des Erzählers Paul Lohman – in der Hörbuchversion grandios gelesen von Joachim Król – zunehmend in Fassungslosigkeit verfallen ließ.
Das Hörbuch, eine autorisierte Lesefassung, ist so behutsam gekürzt, dass es kaum auffällt, selbst wenn man beide Fassungen kurz nacheinander genießt. So langweilt es keineswegs, den Roman auch noch zu hören, wenn man ihn bereits gelesen hat. Król leiht Lohman derart glaubhaft seine Stimme, dass die Wirkung, die der Autor im Buch erreicht, in der Hörfassung noch gesteigert wird.
Die Art und Weise, wie es dem niederländischen Autor Herman Koch gelingt, seine Hauptfigur bei aller Schrulligkeit zunächst als Sympathieträger aufzubauen, um ihn dann gnadenlos zu dekonstruieren, ist verblüffend. Und man fühlt sich immer wieder ertappt, weil man Paul Lohman blindlings in seine moralischen Abgründe folgt, um dann jedes Mal wieder ernüchtert zu werden von den Auswüchsen bedingungsloser Elternliebe.
"Angerichtet" ist ganz zu Recht ein preisgekrönter internationaler Bestseller, den man unbedingt gelesen oder gehört haben sollte Aber besser früh anfangen – die Nacht wird lang!
#image4626leftSvenja Leiber: "Schipino" (Schöffling & Co.)
"Schipino liegt weit im Abseits. So weit, dass es kaum zu erkennen ist." Schipino, das sind vier Datschen in der Nähe einer maroden russischen Kolchose. Hierhin hat sich der Deutsche Jan Riba von seinem russischen Freund Viktor entführen lassen, der ihm den Sommer zeigen will. In Schipino lebt, vor allem in der heißen Jahreszeit, eine Handvoll Menschen, die in geheimnisvoller Weise mit diesem Ort verbunden sind. Über allem schwebt das Schicksal einer gewissen Mascha, auf die alle hier warten. Wegen ihr kommen sie Jahr für Jahr zurück.
Jan wird zunehmend in den Bann dieser Menschen und ihrer Geschichte gezogen und versucht den Geheimnissen Schipinos auf den Grund zu gehen. Er verstrickt sich immer mehr in die Beziehungen der heterogenen Gruppe, die an diversen Konflikten zu zerbrechen droht, und verspricht schließlich der geheimnisvollen Lilja zu bleiben, bis Mascha zurückkommt.
"Schipino" ist ein Roman der Entschleunigung. Das Warten, die Verzögerung, ist eines der zentralen Themen. Beginnend mit der Ankunft in Moskau, steigert sich dieses Warten zu einem Ausharren an jenem einsamen Ort mitten im Wald, umringt von Sümpfen und Seen.
Einmal eingetaucht in diese gleichsam zeitlose Welt im russischen Niemandsland, wurde ich gefesselt von der Intensität der Erzählung. Svenja Leibers unprätentiöse Sprache ist weit davon entfernt überladen zu wirken. Sie ist klar und prägnant, beinahe wortkarg – wie auch die Menschen in Schipino. Und obwohl die Autorin vieles offen lässt, gerade auch in Bezug auf die Geschichte ihrer Figuren, zeichnet sie mit wenigen "Pinselstrichen" ein überraschend klares Bild von diesem Ort und den an ihn gebundenen Menschen. Ein außerordentlich gelungenes Romandebüt.
Miriam Seifert-Waibel, 33, wählte diese Bücher-Tipps aus. Sie hat Deutsche Literaturwissenschaft, Kunst- und Medienwissenschaft sowie Politik studiert. Nach fünfjähriger Tätigkeit als Lektorin in einem Schweizer Verlag lebt und arbeitet sie seit 2009 als freie Lektorin in Hamburg (www.textwerk23.de). Sie gehört zum Organisationsteam des LiteraturBrunchs der Hamburger BücherFrauen.
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"