Odyssee ins Unbekannte: Carol Birch erzählt in ihrem neuen Roman die Geschichte eines Jungen, der sich die Welt erobert und dabei den Grenzen der Menschlichkeit begegnet.
Am Anfang wird Jaffy Brown fast von einem Tiger gefressen. Das mächtige Geschöpf, das aus einer Menagerie entlaufen ist, nimmt den kleinen Jungen in sein riesiges Maul. Die Menge ist entsetzt. Der Tiger jedoch trägt Jaffy behutsam wie ein Tigerbaby. Ein Augenblick, der das Leben des Jungen verändert und ihm eine neue Welt eröffnet. Jaffy ist der Held aus Carol Birchs neuem Roman "Der
Atem der Welt". Er wächst im London der 1850er-Jahre in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter auf. In den wuseligen Straßen der Docklands stinkt es nach Moder und Fisch, und wenn er aus dem Fenster blickt, beobachtet er Matrosen und Huren. Es weht ein Hauch von Charles Dickens durch die ersten Seiten des Buchs – und der Leser wäre kaum überrascht, wenn Oliver Twist um die Ecke biegen würde.
Der Besitzer des Tigers und Inhaber der Menagerie stellt Jaffy ein, um
die Käfige zu säubern. Und die fremde Umgebung voll wilder Tiere und exotischer Schönheit weckt seine Sehnsucht nach der großen weiten Welt. Hier lernt Jaffy auch Tim kennen, der sein bester Freund wird und mit dem ihn die Sehnsucht nach dem Meer verbindet. Doch die Idylle endet, als Jaffy gemeinsam mit Tim auf einem Walfänger anheuert, um für einen reichen Tiersammler in der Südsee Drachen zu jagen – an deren Existenz zu diesem Zeitpunkt niemand zweifelt. So beginnt eine abenteuerliche Reise durch die Stürme des Indischen Ozeans. Vergessen ist fortan die Welt
Charles Dickens', nun begibt sich Carol Birch vielmehr auf die Spuren von Melvilles "Moby Dick".
Doch noch einmal wandelt sich die Geschichte, und zwar als das Schiff in einer gewaltigen Windhose sinkt und die Geretteten auf zwei Booten gegen den Hunger und um ihr Überleben
kämpfen müssen. In dieser existenziellen Not bricht die innerste Natur des Menschen hervor – und
Jaffys und Tims Freundschaft wird auf die größtmögliche Belastungsprobe gestellt.
Die Autorin Carol Birch besitzt eine schillernde Fantasie. Wenn sie mit anschaulicher sprachlicher Kraft vom wogenden Meer und der Einsamkeit auf hoher See schreibt, bangt man mit um
das Schicksal des Helden, und die Buchseiten wenden sich wie von allein. Denn "Der Atem
der Welt" ist nicht nur eine Reise ans Ende der Welt, sondern lotet auch die Grenzen der Menschlichkeit aus.