Umgang mit Amokläufen

Was kommt nach der Tragödie, Kaleb Erdmann?

2002 erlebte Kaleb Erdmann den Amoklauf von Erfurt mit. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben, mit dem er auch für den Deutschen Buchpreis nominiert ist. Hier erklärt der Autor, wieso die Suche nach dem Warum wenig bringt.

Mittwoch, 27. August 2025

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Foto: Jakob Kielgass

Wieso hast du dich entschlossen, ein Buch über deine Erfahrung in Erfurt zu schreiben?
Wir leben in einer Welt, in der Gewalt so normalisiert und so medial präsent ist, dass sie schnell wieder vergessen ist. Deshalb bin ich überzeugt, dass eine tiefe und nachhaltige Beschäftigung mit den Konsequenzen dieser Gewalt auch Jahre später geboten und notwendig ist. Und dass die Literatur diesen genauen Blick vielleicht besser werfen kann als mediale Debatten oder Talkshow-Diskussionen.

Was waren deine ersten Gedanken, als du vom Amoklauf in Graz Mitte Juni gehört hast?
Ich habe mich an die Berichterstattung nach vergangenen Amokläufen erinnert: Man wollte so schnell wie möglich alles über Täter und Tat herausfinden. Damals gab es noch keine News-Ticker, die minütlich Material verlangen. Dieser Versuch, alles sofort aufzudecken, wirkt damals wie heute verzweifelt: Die komplexe Geschichte einer solchen Tat lässt sich so schnell nicht erzählen. Deshalb habe ich mich erst mal von der Berichterstattung zurückgezogen und bin später zurückgekehrt.

Was passierte, nachdem die mediale Aufmerksamkeit in Erfurt abgeklungen war?
Man darf nicht vergessen, dass über die Schule hinaus die ganze Erfurter Stadtgesellschaft erschüttert war – von den Hilfs- und Polizeikräften, die vor Ort waren, über die Angehörigen der Opfer und Betroffenen bis hin zu den Mitarbeitenden der Unfallkassen, der Stadtpolitik, den Journalist*innen. Dazu kamen Wut und Frustration, zum Beispiel über die unzureichende Aufarbeitung der Fehler der Polizei während des Einsatzes. Ich glaube schon, dass man in Erfurt die Tat heute verarbeitet hat, aber nicht vergessen. Das merke ich, wenn ich in der Stadt bin und mit Menschen spreche, die sich auch fast 25 Jahre später noch gut erinnern, wo sie an diesem Tag gewesen sind, eigene Geschichten und Perspektiven auf das Geschehen haben.

Bringt es etwas, nach dem Warum zu suchen?
Ich habe gar nicht erst versucht, nach so einer Antwort zu suchen. Als Kind waren die Zusammenhänge zu komplex, um sie ganz durchdringen zu können. Und später habe ich verstanden, dass man solche Fragen immer nur für sich selbst beantworten kann. Die Aufarbeitung des Motivs ist schließlich Aufgabe von Kriminologie, Psychologie und Amokforschung. Das Gefühl von Ratlosigkeit ist legitim, gerade in einer Zeit, in der oft mit großer Sicherheit und Überzeugung operiert wird, in der wir immer schnell eine Erklärung brauchen, auch dort, wo vielleicht ein genauer und abwartender Blick mehr zu Tage fördern würde.

Was sollte sich deiner Meinung nach am gesellschaftlichen und medialen Umgang mit Amokläufen ändern?
Weniger reflexhafter Voyeurismus und populistische Suche nach oberflächlichen Ursachen, stattdessen ein gründlicher Blick, der Widersprüche und Gleichzeitigkeit zulässt.

Kaleb Erdmanns Roman „Die Ausweichschule“ (Ullstein, 22 €) ist autofiktional: eine Verarbeitung persönlicher Erfahrungen