Für Buchautorin Nicole Stern ist Muße eine Lebenseinstellung. Im Interview mit EMOTION.DE erzählt sie, was eine mußevolle Haltung für sie ausmacht.
EMOTION.DE: "Muße" – ist das nicht ein etwas altbackener Begriff für Nichtstun?
Nicole Stern: Auf den ersten Blick scheint er wirklich etwas verstaubt zu sein. Viele Jugendliche und junge Erwachsene kennen das Wort schon gar nicht mehr. Dabei ist Muße ein wunderschöner alter Begriff, der vor allem mit Gelassenheit, innerer Ruhe und Erfüllung zu tun hat. Er beschreibt das, wonach wir uns in unserer geschäftigen Welt so sehr sehnen: Frei verfügbare, selbstbestimmte Zeit, in der wir einfach "sein" dürfen. Muße ist viel mehr als Nichtstun.
Sie fordern auf, im "Jetzt" zu leben – tun wir das nicht alle längst?
Theoretisch schon. Die Vergangenheit ist vorbei und die Zukunft ist noch nicht da. Praktisch erleben wir die bewusste Gegenwart aber eher selten. Wer im Jetzt lebt, merkt es daran, dass sich jeder Augenblick sehr erfüllt anfühlt, das Denken zur Ruhe kommt und die Sinne viel bewusster wahrgenommen werden. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht.
Ich verstand es erst durch meine Mutter, die an Brustkrebs erkrankte und vier Jahre später starb. Die Diagnose katapultierte sie von einem Tag auf den anderen von der Überholspur und gewohnheitsmäßiger Zukunftsorientierung in das Jetzt. Als ihr klar wurde, dass ihr vielleicht nur noch wenig Zeit blieb, lernte sie Schritt für Schritt die Fülle des Augenblicks zu schätzen und entwickelte eine erstaunliche Lebensfreude. Deshalb entschloss ich mich bereits damals, Wege zu finden, die in die innere Ruhe und Gelassenheit führen. Ich wollte nicht abwarten, bis mich eine Krankheit oder ein anderes kritisches Lebensereignis dazu aufforderte.
Was hat das Jetzt mit der Muße zu tun?
Muße ist die Hingabe an den Moment, sie hilft uns im Jetzt anzukommen. Die Fähigkeit zur mußevollen Hingabe schlummert in uns allen. Sie kann sich zum Beispiel mit dem gelösten und erfüllenden Gefühl, einfach "Da-Zu-Sein", zeigen. In der Regel ordnen wir all unser Handeln einem Zweck unter. In der Muße gibt es diese Zielorientierung nicht mehr und wir kommen im Jetzt an. Das Müssen fällt weg.
Was würde passieren, wenn wir uns alle nach dem Muße-Prinzip richten würden?
Die Muße würde ihre transformierende Kraft entfalten. Denn sie führt zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit. Die Muße als kraftvolles Lebensprinzip zu entdecken würde uns helfen, neue Sichtweisen und Gewohnheiten einzuüben, die uns selbst mehr Freiheit schenken. Zugleich würde es die Qualität unserer Beziehungen verändern, in unsere Arbeit hineinwirken und letztendlich unsere Gesellschaft mitprägen.
Wird Müßigang heute nicht eher verpönt als geschätzt?
Ich bin zuversichtlich, dass wir uns mitten in einer Phase des Umdenkens befinden. Die Muße steht vor einer Renaissance und wird, wie es bereits in der Antike der Fall war, wieder positiv besetzt werden.
Woran machen Sie das fest?
Wir erkennen gerade wieder, wie notwendig freie Zeit und Regeneration ist. Rückenwind bekommt die Muße auch durch die Forschung. Hirnforscher haben festgestellt, dass unser Gehirn immer wieder Ruhephasen braucht und ein gewisser Leerlauf im Kopf für unsere geistige Stabilität unabdingbar ist. Denn wir können uns von den vielen Eindrücken nur erholen, wenn wir regelmäßige Pausen einlegen.
Die Muße steht vor einer Renaissance.
Nicole Stern, Autorin von "Das Muße-Prinzip"Tweet
Wie lässt sich Muße mit einem hektischen Arbeitstag vereinbaren?
Auf den ersten Blick erst mal gar nicht. Der Berufsalltag ist oft so durchgetaktet, dass wir kaum noch zum Nachspüren kommen und nur müde lächeln, wenn wir uns fragen, ob Muße auch bei der Arbeit erlebt werden kann. Aufgrund des vorherrschenden Hochleistungsdenken ist es im beruflichen Kontext leichter nicht von Muße, sondern von einer "Pausenkultur" zu sprechen.
Wie sieht das im konkreten Arbeitsalltag aus?
Wir können lernen, in unserem Arbeitsalltag bewusste Pausen zu machen. Jede Tätigkeitsunterbrechung, das Öffnen des Fensters, das Verlassen des Raumes oder der Gang zur Kantine kann dazu genutzt werden. Die Perspektivänderung macht den Unterschied. Wirtschaftspsychologen und Arbeitsmediziner haben festgestellt: Wer jede Stunde fünf Minuten an etwas anderes als die Arbeit denkt, senkt nicht nur den Stresspegel, er steigert auch seine Leistung.
Vielen Menschen fällt es unheimlich schwer, einfach mal nichts zu tun. Was raten Sie ihnen?
Zunächst einmal zu reflektieren und einen ehrlichen Blick auf die eigene Fähigkeit zum Nichtstun zu werfen: Wie gut bin ich im Nichtstun?
Auch bei mir war das Nichtstun mit dem unangenehmen Gefühl verbunden, zu nichts nutze zu sein. Dieser Glaubenssatz berührt empfindlich das Selbstwertgefühl. Gerade aktive und erfolgreiche Menschen, stellen bei aufrichtiger Selbstbefragung fest, dass sie sich entspanntes Nichtstun nicht gönnen können, obwohl sie es gern täten. Es dauert eine Zeit, um das Nichtstun wieder zu lernen und das genießen zu können, was Friedrich Nietzsche als "Windstille der Seele" beschrieb. Dabei hilft eine ausdrückliche "Erlaubnis zum Nichtstun" sowie die Achtsamkeits- und Meditationspraxis.
Nicole Stern ist Führungskraft in einer Unternehmensberatung sowie Meditationslehrerin mit weltweiter Lehrtätigkeit. Dabei vermittelt sie eine alltagsbezogene Anwendung der östlichen Weisheitslehren in persönlichen und beruflichen Kontexten und begleitet Menschen auf ihrem Weg zu mehr Gelassenheit.
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