Lange war's für Sternekoch Tim Raue wichtig, den Bad Boy zu spielen. Damit hat er die Verletzungen einer Kindheit weggedrückt, in der er sich oft von Abfall ernähren musste. Jetzt hat er sich, auch dank der Liebe, neu erfunden (und ist an manchen Punkten immer noch ganz schön tough).
Der Zoom-Link macht ihn mal kurz wütend, auch weil er sich in technischen Belangen alt fühlt. Doch dann ist Tim Raue voll da. Der erfolgreiche Küchenchef hat gerade ein neues Buch geschrieben, mit dem Titel "Ich weiß, was Hunger ist" (Callwey, 29,95 €). Wir sprechen über Kinderarmut in Deutschland, über die Vier-Tage-Woche und Dispokredite.
EMOTION: Tim, im Buch geht es viel um deine Entwicklung. Wie hast du dich verändert?
Tim Raue: Ich latsche nicht mehr schreiend durch die Gegend. Ich habe einige Therapien gemacht, bin als Mensch gereift, kann heute besser zuhören, meine Mitarbeiter besser motivieren ... Ich arbeite immer noch zu viel, mein Dauerzustand ist Dauermüdigkeit, aber das Leben macht mir Freude.
Du sprichst da viel über "finding yourself" und "creating yourself" – was steht im Vordergrund?
Das eine bedingt das andere. Ich bin für mich weitergekommen, mit meiner Frau Katharina an meiner Seite, die mich vom ersten Moment an so geliebt hat, wie ich bin. Ich genieße die Freiheit, dass sie unabhängig ist. Ich bin 200 Tage im Jahr on tour und brauche jemanden an meiner Seite, die ein eigenes Leben führt. Wir zelebrieren unsere Zeit zusammen, aber wir verfluchen die Distanz nicht. Durch die beruflichen Trennungsphasen haben wir beide die Chance, frei zu denken und unseren kreativen Gestaltungsfreiraum voll auszuschöpfen.
Hat sich dein neues Lebensgefühl auf deine Art zu kochen ausgewirkt?
Ja! Meine Teller sind höflicher, freundlicher, zugänglicher geworden.
Was meinst du damit?
Bei mir steht gerade ein Kalbsragout auf dem Herd. Gutes Beispiel. Früher hätte ich einem Kalbsragout mit viel Jalapeño Schärfe verpasst und mit Sojasoße Tiefe. Auf das Bild des zarten hellen Kalbs wäre ich nicht gekommen. Heute wäre meine Soße hell, Noilly Prat statt Rotwein. Ich würde mit grünem Szechuan-Pfeffer arbeiten, mit leicht bitterem Löwenzahn und Aromen von eingelegten gelblichen Äpfeln. Ein Hauch von Jalapeño läge nur zart und wolkig drüber.
Deine Weichheit jetzt auf dem Teller?
Die siehst du bei mir jetzt in jedem einzelnen Gang. Das genieße ich sehr. Ich wache trotzdem oft auf und zweifle, bin ich noch gut genug? Haut das noch alles hin, schmeckt das, was ich kreiere? Jeder Tag ist ein neuer Kampf. Ich habe dann kein Vertrauen, dass es gut genug ist, was ich abliefere.
Was erdet dich bei solchen Zweifeln?
Ich muss ins Restaurant gehen, mit der Crew sein, ich muss Gerichte probieren. Sehen, schmecken, fühlen. Ich muss es visualisieren, das ist das einzige, was mich erdet. Jeden Tag ist das so.
Du berührst oft deine Armbänder. Haben sie was zu bedeuten?
Wenn ich sie anfasse, fühle ich, dass ich glücklich bin und viel Glück im Leben habe. Trotz meiner harten Kindheit und Jugend habe ich viel Gutes vom Leben zurückbekommen.
Du bist ein Sternekoch und dennoch unsicher. Was macht es dir so schwer, auf dich selbst zu vertrauen?
Ich habe zu Hause nie eine Bestätigung erlebt. Die Worte: "Tim, wir lieben dich, egal was du machst oder was du anstellst", gab es nicht bei meinen Eltern. Ich wurde nicht gekuschelt, eigentlich habe ich bei ihnen nie erfahren, was Liebe ist. Ich hatte im Grunde kein Zuhause. Da herrschte einfach eine große Lieblosigkeit mir gegenüber und das hat mich so wurzellos gemacht.
Kann so ein Loch der Lieblosigkeit gestopft werden?
Ich weiß es nicht. Aber was ich mittlerweile gelernt habe, ist, meine Aggressionen zu kanalisieren. Ich muss nicht mehr im Konflikt die Hand heben oder zutreten. Ich kann Auseinandersetzungen verbal führen. Tatsächlich bin ich heute dafür, dass das Gewaltmonopol allein beim Staat liegt, das ist hier in Berlin bei Clans und Gangs nicht selbstverständlich. Und das finde ich richtig scheiße, weil es ausarten kann.
Dein Start ins Leben war nicht leicht: die Scheidung deiner Eltern, du hast durch deinen Vater Gewalt erlebt, bist Mitglied einer Gang geworden ... Als Teenager warst du dann im Berliner Berufsinformationszentrum, wo dir bei deinen Noten drei Ausbildungsberufe zur Auswahl standen: Maler, Gärtner oder Koch.
Landschaftsgärtner, ganz wichtig! Ich sollte draußen arbeiten, wo es dauernd regnet. Ich hasse Regen zutiefst.
Du hast dir deinen Erfolg mit sehr viel Kraft aufgebaut. War das deine Art, die emotionale Vernachlässigung und die Gewalt, die du erlebt hast, hinter dir zu lassen?
Das Positive ist, dass ich weiß, dass ich produktiv bleiben kann. Als Negatives bleibt, dass ich mich einfach nicht richtig freuen kann. Höchstens ein paar Sekunden. Zum Beispiel wenn ich eine Auszeichnung bekomme, dann brauche ich mindestens ein Jahr Abstand, bis ich mich darüber richtig freuen kann. Auf meiner linken Schulter feiert mich das Engelchen und auf meiner rechten Schulter sitzt das Teufelchen mit der Bemerkung: "Tim, los, zacki, zacki, der nächste Gast wartet. Auf jetzt!"
Du freust dich wirklich nie spontan?
Fällt mir echt schwer. Ich glaube auch nie, dass ich geil bin ...
Wir haben 2,5 Millionen Kinder in Deutschland an der Armutsgrenze, für die eine warme Mahlzeit keine Selbstverständlichkeit ist. Du schreibst von diesem Gefühl ...
Ja, so war das auch bei mir. Essen war eine harte Nummer. Als ich bei meinem Vater gelebt habe, gab es Essen, aber eben nicht für mich. Meine Stiefmutter war nicht bereit, für mich zu kochen. Sie hat auch keine Wäsche für mich gewaschen. Ich musste mich im Alter von neun bis zwölf Jahren allein ernähren, im Kühlschrank hatte ich unten ein Fach, da haben sie ihre Abfälle reingeräumt, und daraus musste ich mir alleine etwas zubereiten.
Was für eine Ausgrenzung und Demütigung für dich als Kind.
Das war das Ziel meiner Stiefmutter.
Und deine leibliche Mutter?
Sie konnte nicht kochen und hatte andere psychische Themen. Für mich, als kleiner Junge, war es das Größte, wenn mich einer meiner Kumpels zu sich nach Hause mitgenommen hat, wo die türkischstämmigen Mütter gekocht haben. Noch heute esse ich wie ein Schwein. Ich schlinge oft alles rein, der Ich-muss-was-essen-Impuls ist aus der Kindheit geblieben.
Ist Essen auch Trost?
Absolut. Eis, Aufschnittplatte und falscher Hase bei den Großeltern war mein Hauch von Geborgenheit. Für mich ist heute auch essenziell, was ich anziehe, was meine Haut direkt berührt. Es muss zart und weich sein. Ich lege unfassbar viel Wert auf Stoffqualität, das ist mein roter Faden der Geborgenheit.
Wie funktioniert das gemeinsame Essen mit dir, wenn du so schlingst?
Wenn mich jemand oberlehrerhaft daran erinnert, langsamer zu essen, dann endet das Essen im Konflikt. Meine Frau macht es taktisch sehr geschickt, sie kaut dann langsamer, schaut mich dabei intensiv an und legt ihren Löffel zur Seite. Dann verstehe ich das Signal und lasse die Anspannung aus meinem Körper ganz langsam los.
Ist Hunger das ultimative Signal für fehlende Sicherheit?
Im Endeffekt ist alles schwierig für mich, was mit Armut zu tun hat. Als Unternehmer bin ich verschuldet, auch weil ich Steuern sparen will. Ich ertrage Schulden aber nicht. Ich kann nicht im Dispokredit hängen. Ich bin ein Aufsteiger mit Hang zum Rapper-Shit.
Was meinst du?
Bargeld, Gold, Statussymbole. Wenn ich mal nicht 300, 400 Euro bar in der Tasche habe, dann fühle ich mich mies. Bei Anlagen und so was bin ich komplett raus, ich habe leider das Modell mit den Immobilien nicht verstanden, auch weil ich nicht an das Konzept von Z-U-H-A-U-S-E glaube. Ich glaube an keine Zukunft und vertraue auch nicht darauf, dass ich Kredite noch in zehn Jahren abzahlen kann. Ich lebe im Heute, im Hier und Jetzt.
Glaubst du, die Kinderarmut heute ist vergleichbar mit deiner Kindheit?
Das Thema ist für mich schwer zu ertragen, ein böser Stachel. Dass Kinder Hunger haben in unserem reichen Land, ist an Erbärmlichkeit nicht zu überbieten. Wie sollen sich Menschen fühlen, für die nicht ausreichend gesorgt wird? Und ich spreche nicht von denen, die faul zu Hause herumsitzen.
Du unterstützt mit deinem Team das Sozialnetzwerk Arche ...
Ja, und wir versuchen, sozial benachteiligten Kindern berufliche Perspektiven aufzuzeigen. Ich helfe lieber direkt vor Ort. Ich kann nicht nachvollziehen, dass wir Kinder in unserem Land hungern lassen und damit wieder eine Generation in Armut prägen. Die Supermärkte überfluten uns mit Produkten und einen Kilometer weiter triffst du auf Familien, die anstehen müssen für ihr Essen. Der Hunger, den ich erlebt habe, die Scham und Demütigung durch die Schläge meines Vaters, da entsteht ein unglaublicher Hass, wenn du so kleingehalten wirst. Es dauert Jahre, diesen Hass zu bekämpfen. Es dauert Jahre, den Wunsch, dich für das zu rächen, was dir als Kind angetan wurde, abzubauen.
Weil Hunger ein Leben lang als existenzielles Gefühl bleibt?
Hunger bringt dich an den Rand der Gesellschaft. Wir müssen unsere jungen Generationen mit Essen und Bildung versorgen. Ich wollte aufsteigen, ich bin hingefallen und allein zigmal wieder aufgestanden. Höher, schneller, weiter war mein Ziel. Heute lebe ich den amerikanischen Traum vom Aufstieg.
Du bist am Arbeitsplatz schon mal vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen, du hattest über Jahre undefinierbare, höllische Schmerzen. Wann sagst du: Ich kann nicht mehr?
Heute merke ich, wann meine Überforderung beginnt. Mein Magen rebelliert, die Ohren beginnen zu klingeln, dann mache ich Mittagsschlaf und sage für den kommenden Tag zwei bis drei Termine ab. Ich bin ruhiger geworden, nehme mir Auszeiten, und Katharina, meine Frau, nimmt mich in den Arm.
In vielen Ländern wird, wie bei uns auch, die Vier-Tage Woche diskutiert, was hältst du davon?
Ehrlich gesagt, habe ich oft das Gefühl, die Sattheit der jungen Generation, das Desinteresse, Verantwortung zu übernehmen, wird unserem Land das Genick brechen. Viele der Jüngeren sind Pfeifen, die nicht darauf brennen, sich zu entwickeln. Wir sind als Land auf dem absteigenden Ast, wir müssen aufpassen. Wenn wir uns nicht ständig weiterentwickeln, wenn wir so faul bleiben, spielen wir nicht mehr lange vorne mit. Ich beobachte als Küchenchef stets meine Konkurrenten, bin wach. Ich kenne niemanden, der mit einer Vier-Tage-Woche und maximal sechs Stunden Arbeit am Tag richtig Erfolg hat.
Dein Erfolg heißt: "Kitchen Impossible", "The Taste", TV-Produktionen, Personalfragen klären, Einkauf regeln für insgesamt neun Berliner Restaurants und dazu jetzt die Inflation. Bei dem Pensum bekomme ich Schnappatmung.
Ich achte darauf, nur noch sechs Tage die Woche zu arbeiten und werde bestimmt nicht schaffen, bis ich 65 bin. Im August und Januar sind meine Läden zu, das Team und ich erholen uns von der Anspannung.
Und wie sieht es aus mit deinen Tagesstunden, auf wie viele kommst du?
Sie liegen immer im zweistelligen Bereich. Das kriege ich nicht hin, da war ich schon mal runter. Ich kann aber über mich selbst verfügen, habe kein Management im Nacken, ich gestalte die Stunden. Bin Herr über meinen Schedule, das ist elementar für mich.
Steigende Preise bei Lebensmitteln, was heißt das für dich?
30 bis 40 Prozent Preissteigerung ist brutal. Das macht es noch schwieriger für viele Leute, sich gesund zu ernähren. Was mir gerade richtig Angst macht, sind die steigenden Energiepreise. Wir rauschen in eine Rezession rein, die uns sehr hart treffen wird.
Was bedeutet das für dein Klientel?
Im Hauptrestaurant sind wir auf drei Monate im Voraus ausgebucht. Oft sind das internationale Gäste. Die anderen Restaurants basieren auf casual Konzepten. Essen ist auch eine Flucht aus der Realität, aber das leistest du dir jetzt unter der Woche vielleicht nicht mehr. Gäste schenken sich einen Restaurantbesuch dann eher noch zu besonderen Anlässen. Ich muss schnell und flexibel sein, ich kann die wirtschaftlichen Herausforderungen ja nicht ändern.
Setzt du den Fokus deshalb mehr auf Fernsehproduktionen?
Ich habe tatsächlich ein wenig umgesattelt, das TV-Business ist krisenfester.
Hast du Verlustängste?
Ich bin ein Überlebender. Ich finde immer meinen Weg, durch jede Krise. Ich habe ganz andere Sachen überlebt. Landwirtschaft soll schonender werden, Bauern das Klima berücksichtigen. Es gibt zahlreiche ökologische Ansätze, Ideen für Fleischersatz, etwa Lupine als Fleischalternative.
Was hat dich da zuletzt überrascht?
Dass vegane Gerichte extrem erfolgreich sind, hat mich überrascht. Hühnerbrust aus Erbsenproteinen, damit sprichst du die Generation der 15- bis 35-Jährigen an. Mir ist nur wichtig, dass wir vegane Gerichte genauso liebevoll würzen, mit Kräutern anrichten und den Geschmack intensiv herausholen. Heute kommen Menschen aus aller Welt ins Restaurant und entscheiden sich für mein veganes Menü, das erfreut mich. Sehr.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 1/2 22/23.
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