Ihre Hitsingle "Stolen Dance" kennt fast jeder. Aber kaum einer weiß, dass die musikalischen Shootingstars Milky Chance zwei Schulfreunde aus Kassel sind, die gleich aus dem Gymnasium auf die Weltbühne gesprungen sind. Wie geht das denn?
Clemens Rehbein und Philipp Dausch alias "Milky Chance" haben 2012 ihre erste Single auf Youtube hochgeladen, die sie im heimischen Keller produziert haben, da gingen sie noch zur Schule. Das war vor sechs Jahren. Von Kassel wurden sie direkt nach dem Abi in die internationalen Charts katapultiert. Gerade sind sie weltweit auf der "The Blossom"-Tour. Wir sprechen über ihre Freundschaft.
Bärbel Schäfer: Clemens, du schreibst die Texte, bist Gitarrist und Leadsänger bei Milky Chance, Philipp komponiert und produziert. Wer wärst du als Künstler ohne Philipp an deiner Seite?
Clemens: Sicherlich sehr eigenbrötlerisch und irgendwo allein unterwegs.
Ist in eurem zweisamen Erfolg Kreativität ohne den anderen noch denkbar?
Clemens: Klar, ich mache auch gerne Sachen alleine, aber zusammen etwas zu schaffen, das gegenseitige Wechselspiel zu erleben, ist interessanter.
Braucht ihr das jeweilige Gegenüber um in eurer Band an Grenzen zu gehen?
Clemens: Philipp trägt mich dahin, wo ich allein nicht hingehen würde. Philipp: Es gilt, Brücken zu schlagen. Kreativ zu sein bedeutet für mich, den eigenen Kosmos zu verlassen und mich mit anderen zu vermischen. Nur so können Clemens und ich musikalische Grenzen sprengen.
Das setzt aber voraus, dass ihr eine Sprache sprecht und eure jeweiligen Signale versteht.
Philipp: Wir machen schon so lange zusammen Musik, dass wir die Signale des anderen sehr schnell verstehen. Wir haben einen sehr ähnlichen Vibe. Deswegen ist es auch so schön, dass wir uns als Musiker gefunden haben.
Ist das vergleichbar mit der großen Liebe, wo es ja auch selten ist, jemand zu finden, mit dem es wirklich passt?
Philipp: Wenn man an die eine große Liebe glaubt, ist es vielleicht vergleichbar. Es ist sicher etwas Besonderes. Wir haben ja schon in der Schule mit unserer Musik angefangen, sind uns also in einem Alter begegnet, in dem das Gefühl von echter Freundschaft sehr wertvoll war.
Milky Chance on tour
Wenn ihr euch schon so lange kennt: Könnt ihr euch da überhaupt noch mit neuen Impulsen überraschen?
Philipp: Wir haben beide unsere individuellen Leben und Einflüsse, aber auch noch einen gemeinsamen Freundeskreis von früher. Da ist noch genug, um den anderen zu überraschen.
Clemens: Beim künstlerischen Output sind wir nah beeinander und sprechen eine Sprache. Aber Milky Chance ist eine Einheit mit großer individueller Freiheit. Jeder bringt in die Band mit ein, was er kann. Wie es eben in der Liebe auch sein sollte.
Beruhigend, dass ihr nicht in identischen Klamotten aus dem Haus geht. Clemens: Zwei gleiche rote Regenjacken gibt es bei uns nicht, nein (lacht).
Wie schließt ihr Kompromisse?
Philipp: Wir vertrauen auf das, was der andere gut kann, und lassen uns gegenseitig Platz, in dem alles sprießen kann. Es geht nicht verbissen um die eigene Idee. Einer unserer Songs heißt zwar "Ego", aber: Ego kills creativity.
Was habt ihr in diesem Band-Wir über euch gelernt?
Philipp: Die ganze Gruppe, also auch die Musiker, die mit uns touren, und alle, die hinter Milky Chance stehen – das alles funktioniert nur über Gemeinsamkeit. Ohne Einfühlungsvermögen und den Versuch, zu verstehen, was der andere leistet, könnten wir nicht 80 Prozent des Jahres unterwegs sein. Unsere Kraft kommt aus dem Wir.
Philipp, hast du on tour eine neue Seite an deinem Kumpel Clemens entdeckt?
Philipp: Ich habe eher viele neue Seiten an mir selbst entdeckt.
Clemens: Beim Touren und Musikmachen lernst du eben eher, wie du selbst tickst, wie du auf andere wirkst oder auf sie eingehst. Über mein Ego in der Gruppe habe ich auch viel gelernt. Mir fällt es oft nicht leicht, offen zu sein, ich bin eher jemand, der sich zurückzieht. Dabei empfinde ich genau diese Offenheit als schön.
Je älter ich werde, desto mehr schätze ich den Wert der Worte.
Philipp Dausch von 'Milky Chance'Tweet
Braucht Bandalltag klare Absprachen?
Philipp: Auch wenn man denkt, dass man weiß, wie der andere funktioniert, ist es wichtig, ab und zu laut zu sagen, wie man sich fühlt. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich den Wert der Worte. Wir haben ja sehr gleiche Lebensentwürfe, sind beide früh Familienväter geworden, sind Musiker, Bandmitglieder. Lange dachten wir, dass der andere dadurch immer automatisch Verständnis für alles hat, auch nonverbal. Reden hilft aber manchmal sehr. Deshalb tun wir es verstärkt.
Wie wichtig ist Disziplin?
Philipp: Disziplin ist sehr wichtig. Wegen unseres Sounds halten uns alle immer für verballert, aber wir wären nicht da, wo wir sind, wenn wir nicht disziplinierter geworden wären. Ich bin überzeugt, wenn dir wirklich etwas wichtig ist im Leben, legst du immer Disziplin an den Tag. Was den einen glücklich macht, kann den anderen kaltlassen.
Muss bei euch das Glück des einen automatisch das Glück des anderen bedeuten?
Philipp: Beim Musikmachen ist Euphorie das Wichtigste. Wenn Leute mich begeistern, ist das ansteckend und eine große Inspiration. Wenn ich aus Clemens' Begeisterung zu seinem Text etwas aufbauen kann, ist sein Glück auch meins. Umgekehrt ist es genauso.
Spielt Gerechtigkeit eine Rolle in eurer musikalischen Arbeit?
Philipp: Ich bin nicht in der Lage beim Texten das zu tun, was Clemens leistet. Ich kann komponieren. Da leben wir eine tiefe Freundschaft und Symbiose in der Ergänzung.
Clemens: Ich nenne es Respekt. Ich bin offen für Philipps Ideen und lehne sie nie ab. Sonst wären wir in einem Dauerkampf. Wir sind eben keine Zwangsgemeinschaft, keine gecastete Band. Wir hatten vor Milky Chance ja auch keine negativen Erfahrungswerte in anderen Bands, wir kennen nur uns.
Habt ihr manchmal Angst, irgendwann nicht mehr so wattewolkengleich synchron zu schwingen?
Philipp: Angst wäre kein guter Nährboden. Das würde mich negativ besetzen. Da sind wir gelassen und Freunde genug, um uns an nichts zu klammern. Wir bewegen uns frei in diesem synchronen Weg. Wie lange und wohin der uns noch trägt, wissen wir ja selbst noch nicht.
Die Möglichkeiten der Fans, um Zugang zu eurer Musik zu bekommen, sind mittlerweile sehr vielfältig. Welchen Weg bevorzugt ihr?
Clemens: Mir wäre es am liebsten, wenn wir nur Vinyl-Platten machen könnten. Die Musik ist unser Sprachrohr, unser Ventil. Sie hat für uns den größten Wert, deshalb würde ich mich gerne auf sie konzentrieren. Alle anderen Kommunikationsformen sind nicht unsere erste Wahl. Pressearbeit, Social Media – das fällt uns schwerer und ist eher Mittel zum Zweck. Wenn wir nicht müssten, wären wir weder bei Facebook noch bei Instagram. Beides sind aber hilfreiche Instrumente, um auf unsere große Liebe, die Musik, hinzuweisen.
Mit "Stolen Dance" stürmten Milky Chance die Charts
Es zwingt euch ja keiner dazu.
Clemens: Es wäre wahrscheinlich konsequent, die Accounts zu löschen. Aber die Angst ist zu groß, ein Risiko einzugehen. Vernetztheit bringt Menschen zusammen, das Internet bietet spannende Möglichkeiten. Ich kann es ja lieben lernen und bereit sein, mehr in ihm und mit ihm zu spielen.
Sehnt ihr euch ab und zu nach der Planlosigkeit aus eurer Abizeit?
Philipp: Manchmal schon. Der Plan war ja, nach der Schule planlos zu sein. Richtig schön klischeehaft die Freiheit zu genießen. Aber da hatte jemand einen anderen Plan für uns.
Musik ist grenzenlos. Der ist scheißegal, wo du herkommst.
Clemens Rehbein von 'Milky Chance'Tweet
Jetzt tourt ihr um die Welt. Anaheim, Wien, Frankfurt, Beirut: Der Globus schrumpft durch eure Weltsprache Musik zum globalen Dorf.
Philipp: Dass unsere Musik von Anfang an die Leute an den unterschiedlichsten Orten abgeholt hat, hat uns selbst überrascht. Aber ich kenne das von mir selbst, wenn ich Musik höre, erlebe ich die Intensität meiner Gefühle. Ich glaube, jeder Mensch trägt das in sich. Musik versöhnt, auch wenn wir so viel Grausames auf dem Planeten hören. Nichts lässt Menschen so nah beieinander sein wie Musik. Auch wenn wir uns vielleicht nicht immer auf Anhieb verstehen – aber Musik lässt uns alle etwas spüren und häufig auch verstehen.
Clemens: Leute, die nicht viel reisen, erkennen nicht so leicht, dass wir alle gleich sind und von ähnlichen Dingen träumen wie Liebe, Glück, Nähe. Ich habe das Gefühl, intensives Reisen ist das beste Mittel, um sich zu bilden. Und zum Glück gibt es überall offene, friedliche Menschen, in Beirut ebenso wie in Wien.
Philipp: In unserer Generation reisen alle. Mein Opa war zum Beispiel nur auf der Schwäbischen Alb und nie in Afrika. Wir kommen uns heute alle viel näher, dadurch rücken aber auch die Vorurteile näher an uns heran. Aber wir müssen neugierig auf das Neue sein, das ist das Geschenk der Welt an uns.
Clemens: Wir sind keine politische Band. Wir haben aber persönliche Werte. Die leben wir in der Erziehung unserer Kinder und in der Art, wie wir anderen begegnen Wir glauben mehr daran, Werte im Alltag zu leben, als politische Lyrics zu schreiben. Unser Stil ist weltoffen und vielfältig. Wir lieben Ladysmith Black Mambazo, Jimi Hendrix und auch Techno. Das ist ja das Schöne an der Musik: Sie ist offen und grenzenlos, der ist es scheißegal, wo du herkommst.
"Blossom", ihr zweites Album, hat an den internationalen Erfolg von "Sadneccessary" angeknüpft.