Mit 30 muss das Leben plötzlich perfekt geregelt sein? Nö. Henriette Hell wehrt sich in ihrem neuen Buch "Ihr könnt mich mal ... so nehmen, wie ich bin!" gegen die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen ihres Alters. Sie findet ihr Leben ziemlich geil – ohne Kinder und Karriere. Das sind ihre wichtigsten Learnings ...
"Willst du nicht endlich heiraten und Kinder kriegen?"
Diese Frage bekommen vor allem Frauen um die 30 immer wieder auf Familienfeiern, aber auch von Freund:innen und Bekannten gestellt. Es scheint, als sei die Entscheidung, wie man sein Leben ab 30 gestalten möchte, keine Privatsache, sondern ein Anliegen von höchstem öffentlichen Interesse. "Es ist schon verrückt: Eben warst du noch gemütlich 22, konntest dich entspannt um dein Sexleben kümmern, Auslandserfahrungen sammeln und im Job herumexperimentieren", schreibt Henriette Hell in ihrem neuen Buch. Und dann wirst du 30 und "bist auf Partys plötzlich nicht mehr der scharfe Hingucker, sondern ein schwer vermittelbarer Ü-30-Härtefall."
Henriettes wichtigste Ü30-Learnings
Henriette Hell hat keine Lust, sich diesen Erwartungen zu beugen – und legt ihre Regeln für ein "gelungenes" Leben selbst fest. Die bisher wichtigsten Learnings ihrer Dreißiger verrät die Journalistin, Autorin und DJ aus Hamburg in ihrem neuen Buch "Ihr könnt mich mal ... so nehmen, wie ich bin!" (ab 03.08.2021, Gräfer und Unzer Verlag). Wir haben schon mal reingelesen und dürfen euch unsere Favoriten verraten:
- Vernachlässige niemals deine Freunde wegen einer neuen Liebe. Sie werden es sein, die dir zärtlich über den Kopf streichen und dich mit Weißwein aufpäppeln, wenn das Ganze mal wieder nicht GANZ so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.
- Es gibt immer einen Grund, weshalb jemand – egal in welchem Alter – gerade Single ist. Der geht dich aber nichts an. Also nerv ihn nicht ständig mit deiner Fragerei. Niemand ist liebenswerter, klüger oder besser, nur weil er in einer funktionierenden Beziehung lebt.
- Lerne, deine FOMO – fear of missing out – zu bändigen. Du musst nicht ständig auf allen Hochzeiten tanzen. Veranstalte lieber selbst Partys, wenn DIR danach ist, und sorge dafür, dass sie legendär werden.
- Das Alter sagt nichts über die emotionale Intelligenz einer Person aus. Versuche, deinen Freundeskreis so bunt wie möglich zu gestalten, es wird dich garantiert weiterbringen, wenn du nicht bis zum Lebensende immer nur mit denselben drei Pappnasen abhängst.
- Nimm dich selbst nicht so ernst. Hab den Mut, Regeln zu brechen. Verschwende deine sexy wilden Dreißiger nicht mit Angst und Selbstzweifeln. Es ist völlig egal, was die anderen von dir denken. Tob dich aus. Sprenge Grenzen. JETZT ist immer die beste Zeit für eine neue Erfahrung (bloß bei Crystal Meth würde ich lieber zweimal überlegen).
- Sei nicht geizig oder zurückhaltend, wenn es darum geht, in deine Persönlichkeitsentwicklung, deine Bildung sowie deine psychische Gesundheit zu investieren. Füttere dein Hirn ebenso wie dein Herz und deine Seele.
- Egal, was du tust, wie du aussiehst und wie gut deine Absichten sein mögen: Sobald du in der Öffentlichkeit stehst, wird es Leute geben, die dich, deine Arbeit, dein Aussehen kritisieren. Das hat nichts mit dir zu tun. Hater sind arme Würstchen, die sich von ihrer eigenen traurigen Realität, in der hauptsächlich Selbsthass, Frust und psychische Probleme zu Hause sind, ablenken wollen.
- Hilft am besten gegen Kater: Pho Bo und Brause.
- Es macht dich nicht zu einem wertvolleren Menschen, wenn du ständig gestresst oder busy bist. "Man kann auch ohne allzu viel Arbeit produktiv sein", wusste schon Jean-Paul Sartre. Halleluja.
- Schließ dich mit starken, intelligenten Frauen zusammen, tausch dich aus, profitiere von ihrem Wissen und erlebe, wie erfüllend es sein kann, anderen zu helfen.
- Genieß deine Romanzen, ganz egal, wie lange sie halten.
- Du scheiterst nicht, wenn du eine Sache abbrichst, sondern rettest dich selbst, indem du dich aus etwas befreist, was dir nicht guttut.
- Sobald du zu verbissen einem vermeintlichen Happy End hinterherrennst, wirst du viele gute Happy Hours verpassen.
Der Druck, den eigenen Plan umzusetzen
Vor der Wucht, mit der uns die Erwartungen anderer, aber auch unsere eigenen treffen können, ist niemand sicher. Das stellt auch Henriette im Gespräch mit ihrer Freundin Lulu fest. Das Kapitel heißt übrigens "Wenigstens ist noch Wein im Kühlschrank" – also gönnt euch gerne ein Gläschen zum Lesen dieses exklusiven Auszugs.
Kürzlich traf ich meine gute Freundin Lulu auf ein Glas Wein. Als Teenager haben wir zusammen auf Punkkonzerten zu den Songs der Band ihres großen Bruders geheadbangt und Wodka-O aus Flaschen getrunken. Sie war das erste Mädchen, das ich geküsst habe – nur so zum Spaß. Mir gefielen ihre Doc Martens, die sie mit einem silbernen Edding und dem Satz "Fick das Patriarchat!" verziert hatte. Heute arbeitet Lulu in der Geschäftsführung eines großen Konzerns, kämpft für die Frauenquote, mehr Gleichberechtigung, Equal Pay und Empowerment von Frauen. Durch unsere vielen intensiven Gespräche bin ich mir meiner Identität als Feministin erst so richtig bewusst geworden.
Lulu fragte mich bei unserer Verabredung, worüber ich gerade schreibe. Ich nippte an meinem Sauvignon Blanc. "Über den Druck, der auf Frauen über 30 lastet. Von allen Seiten bekommen wir ab einem gewissen Punkt zu hören, wie wir leben sollen. Vor allem, wenn du keine Kinder hast. Dann hagelt es taktlose Fragen – hauptsächlich von anderen Frauen! Es wird einem das Gefühl vermittelt, dass man sich als Frau erst komplett fühlen darf, wenn man Mutter ist. Aber was, wenn du ganz anders leben willst? Wie machst du dich von diesen Erwartungen und dem Druck frei? Und wie findest du heraus, was du wirklich willst? Frauen sollen endlich die sein können, die sie sein wollen – ohne sich rechtfertigen zu müssen."
Lulus Augen begannen zu funkeln. "Ha! Genau mein Thema." Sie seufzte. "Weißt du, bei mir ist es gerade genau umgekehrt: Ich hätte mittlerweile echt gerne ein Kind, bin ja auch schon 36 ... Aber Justus will noch keins." Lulu verleibte sich einen großzügigen Schluck Wein ein. "Zum Glück habe ich mir die Eizellen schon vor drei Jahren einfrieren lassen. Aber ey, worauf noch warten?! Neulich meinte Justus zu mir: 'Wenn du ein Kind willst, musst du gehen.'" Lulu hielt kurz inne. "Aber das werde ich nicht", sagte sie leise. "Ich hätte bei meinem Job überhaupt keine Zeit und auch wenig Lust, noch mal auf Partnersuche zu gehen. Ich auf Tinder? Eher würde ich mich erschießen ... Weißt du, Justus hat einfach nur Schiss. Deshalb habe ich ihm letzte Woche einen Antrag gemacht. Ganz spontan, beim Essen. Justus hat ja schon häufiger gesagt, dass er erwartet, dass ich IHM irgendwann mal einen Antrag mache, so von wegen Gleichberechtigung. Also dachte ich – scheiß drauf!" Lulu grinste. "Und er hat Ja gesagt." Ich applaudierte Lulu johlend, war aber auch irritiert: Nie hätte ich gedacht, dass auch Lulu irgendwann Torschlusspanik bekommen würde.
"Durch mein Alter fühle ich mich irgendwie unter Druck gesetzt", gestand Lulu. "Als würde ich versagen, wenn ich den ganzen Familienkram mit Haus und Hund nicht rechtzeitig hinkriege und dann irgendwann mit Mitte vierzig blöd dastehe. Ich will alles, weißt du."
Rechtzeitig? Was sollte das denn heißen? "Darf man in deiner Welt mit Mitte vierzig nicht mehr heiraten?", fragte ich Lulu stirnrunzelnd. Aber sie lachte nur, so als hätte ich einen Witz gerissen.
Ja, Lulu hat einen festen Plan für ihr Leben im Kopf und macht sich nun ungeheuren Druck, alles umzusetzen, was sie sich wünscht. Das geht vielen Leuten in unserem Alter so. "Ich erschrecke manchmal darüber, mit welch unerbittlicher Strenge junge Patientinnen auf sich und ihr junges Leben blicken", schreibt die Psychotherapeutin Petra Holler. "Manche Lebensentwürfe sind wie auf dem Reißbrett entworfen. Listen werden abgearbeitet: Das habe ich, das fehlt noch." Für all diese Dinge gebe es den vermeintlich richtigen Zeitpunkt. Und notfalls ließe man eben seine Ei- und Samenzellen einfrieren. Dieser Kontrollwahn sei vor allem bei Frauen um die dreißig zu beobachten. "Sie glauben, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, hätten sie persönlich versagt." Manchmal sei es zweitrangig, ob ein Job erfüllend oder ein Partner der richtige sei, solange beides dabei helfe, den eigenen Plan rechtzeitig umzusetzen.
Diese Beobachtung hat auch der Paartherapeut Clemens von Saldern gemacht – und warnt davor: "Viele sind bei der Auswahl ihres Partners nicht sorgfältig genug. Nicht jeder, der sich gut anfühlt und nett zu mir ist, passt auch zu mir. Viele Paare lernen sich kennen, hüpfen miteinander ins Bett, bekommen Kinder, entwickeln Routinen – und merken zu spät, dass die Wahl eigentlich ein Griff daneben gewesen ist. Den richtigen Partner zu finden ist nicht nur Glückssache, sondern auch harte Arbeit. Nicht umsonst gab es früher eine einjährige Verlobungszeit, um jemanden erst mal auf Herz und Nieren zu prüfen."
Durchaus sinnvoll, denn je älter sie werden, desto mehr Ballast tragen die Menschen mit sich herum. Geschieden, frisch aus der Psychoklinik entlassen, eine durchgeknallte Ex-Frau an der Backe, pubertierende Kinder aus erster Ehe ... Manchmal erscheint einem da die Vorstellung fast schon reizvoll, als enthaltsame Einsiedlerin auf einer Hallig zu leben. In Ruhe und Frieden! Ohne die ganze Aufregung und den Druck, der einen ständig dazu antreibt, doch noch mal alles auf eine Karte zu setzen und sich fallen zu lassen – in das Haifischbecken namens Liebe. Aber Fakt ist nun mal auch, dass es das Schönste und Aufregendste überhaupt ist, eine richtig gute Beziehung zu führen.
Dating in den Dreißigern
Das Thema Dating ist in Henriettes Buch ebenso präsent wie feucht fröhliche Junggesellinnenabschiede, sprechende Elefanten, Panikattacken und einem Silvester allein mit Asia-Essen auf der Couch. Ihre Tipps: Mit miesen Dating-Phänomenen unserer Zeit (Ghosting, Orbiting, Breadcrumbing, ... ) auseinandersetzen und (vielleicht endlich) NICHT mehr darauf hereinfallen. Und bitte auch nicht selbst anwenden.
Ein weiterer Tipp: Aufhören mit dem Schönsaufen. Wieso?
"Du bist nervös vor einem Date und machst dir selbst Druck: Ich muss witzig und locker und zauberhaft sein – damit er sich in mich verknallt! Deine Maßnahme: Du knallst dir schon zu Hause eine halbe Flasche Prosecco rein. Das führt dazu, dass du beim Treffen als eine aufgekratzte, leicht lallige Version deiner selbst aufschlägst, viel zu viel von dir preisgibst und zu schnell aufs Ganze gehst. Und gar nicht merkst, dass der andere nur so halb geil ist (weil du unbedingt willst, dass es der jetzt endlich mal ist), um dich abschließend beim Versuch, einen Stepptanz auf dem Bürgersteig hinzulegen, auch noch aufs Maul zu legen."
We feel it. Was leider auch in den Dreißigern noch passiert und nervt:
"Am schlimmsten finde ich, wenn man schon dem gesamten Freundes- und Familienkreis von einem Mann vorgeschwärmt hat, weil es sich so angefühlt hat, als sei man wirklich zusammen und das Ganze hätte Zukunft. Und dann geht doch alles wieder in die Hose, und du musst gefühlt erst mal eine Pressemitteilung an all deine Freunde und die Familie rausschicken, damit alle Bescheid wissen. Das tut weh ..."
Aber: Es geht immer weiter! Auch weit, weit über die Dreißig hinaus. Und wir müssen uns keinen gesellschaftlichen Wünschen beugen – wenn wir es nicht wollen. Dieses Dekaden-Denken finden wir eh blöd. Lasst uns doch einfach das machen, worauf wir Lust haben. Und dabei Henriette Hells Buch lesen, uns köstlich amüsieren, kräftig mit den Köpfen nicken und merken: wir sind ja gar nicht allein damit.
Henriette Hell ist Journalistin, Autorin und DJ. 2015 erschien ihr Spiegel-Bestseller "Achtung, ich komme! In 80 Orgasmen um die Welt", 2017 folgte "Erst kommen, dann gehen". Fünf Jahre lang schrieb sie für den Stern ihre erfolgreichen Kolumnen "Love from Hell" und "Hells Angel".
Mit "Ihr könnt mich mal ... so nehmen, wie ich bin!" möchte Henriette Hell eine Debatte darüber entfachen wie die vermeintlich ideale Frau aus der Sicht der Gesellschaft zu sein hat – und warum es Zeit ist sich dagegen zu wehren. Ab dem 03.August 2021 bei Gräfer und Unzer.
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