Karl Ove Knausgård ist ein weltweit bekannter Bestseller-Autor aus Norwegen. Im Interview spricht er über die Kunst von Munch und Erwartungsdruck beim Schreiben.
Karl Ove Knausgård im Interview
Dass der Mann jemals zum Shoppen kommt, ist kaum vorstellbar. Denn innerhalb eines Jahrzehnts ist Karl Ove Knausgård mit sechs ziegeldicken Büchern zu einem Weltstar der Literatur geworden. Interviews? Gibt er so gut wie nie. Umso mehr haben wir uns gefreut
Karl Ove Knausgård gilt als wichtigster zeitgenössischer Autor Norwegens. Weltweit berühmt geworden ist der heute 51-Jährige mit seinem autobiografisch angelegten Romanzyklus, der in 30 Sprachen übersetzt wurde. Im Original heißt der Zyklus „Min Kamp“, also „Mein Kampf“; bei uns sind die sechs Bände unter den Titeln „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und „Kämpfen“ erschienen. Gerade hat der Autor sich auf fremdes Terrain begeben und eine Ausstellung mit Werken des bekanntesten norwegischen Malers Edvard Munch kuratiert. Natürlich hat er dazu ein Buch geschrieben: In „So viel Sehnsucht auf kleiner Fläche“ wagt Knausgård eine Annäherung an die fast naiv erscheinenden Fragen: Was ist Kunst? Und wozu brauchen wir sie eigentlich?
Bärbel Schäfer: Herr Knausgård, wann haben Sie das erste Mal ein Bild von Munch gesehen?
Karl Ove Knausgård: In Norwegen hängen seine Bilder überall, in Klassenzimmern, in Arztpraxen, auf Ämtern. Er ist der Weltbekannte unter den bildenden Künstlern Norwegens. Wir sind ja nur ein kleines Land. Bewusst habe ich zum ersten Mal ein Bild von ihm gesehen, als ich nicht darauf vorbereitet war. Das Bild hat mir Tränen in die Augen getrieben. Es war eine verschneite Landschaft. Ich war neunzehn und die Einsamkeit in diesem Bild war unendlich.
Sie haben eine Ausstellung mit seinen Werken kuratiert, die noch bis zum 1. März in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu sehen ist. Was wollten Sie zeigen?
Unbekannte Bilder. Geleitet von meiner Idee, dass man dadurch Munch sehen könnte, als sähe man ihn zum ersten Mal und als das, was er war: ein Maler, der niemals stehen geblieben ist und niemals erstarrt ist.
Sie haben die Bilder in der Ausstellung selbst gehängt und wussten nach der ersten Hängung: Passt! Fühlt sich das gut an, nichts ändern zu wollen?
Eindeutig ja. Ich habe so viel Arbeit rein gesteckt. Das ist wie mit einem Buch. Es ist fertig, ich schaue es an und denke, diese ganze Arbeit habe ich tatsächlich geleistet? Das ist so unwirklich.
Kennen Sie denn beim Schreiben das Gefühl etwas ändern, verbessern oder umschreiben zu wollen?
Nein, nie!
Sie sind also nicht so der Perfektionist, der bis zuletzt an jedem Wort feilt?
Überhaupt nicht. Du musst lernen loszulassen. Wenn du das nicht lernst, kannst du für den Rest deines Lebens an allem unzufrieden herumkritisieren und es ändern wollen. Immer und überall.
Naivität und Scham gehören zum Schreiben dazu.
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Wann ist der Moment etwas loszulassen, zum Beispiel ein Buch?
Ich fühle es einfach. Ich schreibe, komme zum Ende und weiß genau: Das ist das Ende.
Und wenn es erst mal lektoriert und gedruckt ist und Ihnen passt eine Passage nicht?
Dann empfinde ich Scham. Es ist mir peinlich. Ich fühle dann auf der Lesereise, dass dieser Satz einfach schlecht ist. Aber ich kann es nicht mehr ändern. Das gilt es auszuhalten.
Die Scham führt nicht dazu, dass Sie es korrigieren möchten?
Die Scham gehört zu mir, zu meinem Schreiben und zu der Naivität, mit der ich schreibe. Das kann ich doch nicht entfernen wollen, denn dann würde ich mich von mir entfernen, nicht zu mir stehen. Naivität und Scham gehören zum Schreiben dazu.
Wenn du schreibst oder malst, muss du dahin gehen, wo es wehtut.
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Ist der Lebensschmerz eine wichtige Quelle für Kunst?
Edvard Munch ist berühmt geworden mit Bildern zu Themen wie Tod, Verlust, Sexualität, er ist berühmt geworden mit all seinen dunklen, verletzlichen Seiten. Seine Beziehungen waren schwierig. Munch war ein problembeladener Mann. Dennoch sehen wir in einer Vielzahl seiner Arbeiten auch harmonische, sonnendurchflutete Landschaften, fröhlich Badende. Alles ist immer da, beide Pole. Die Verletzungen und das Schöne. Ich wollte alle Facetten dieses Künstlers zeigen, nicht nur sein berühmtes Bild „Der Schrei“. Ich will den Künstler hinter dem „Schrei“ präsentieren und das ist mir gelungen.
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Und was ist mit Ihren eigenen Lebenswunden?
Wenn du schreibst oder malst, muss du dahin gehen, wo es wehtut. Dahin, wo dein Schmerz sitzt. Das mache ich auch. Zugleich bedeutet Schreiben für mich auch Heilung. Meine Kreativität ist ein Prozess, der den Schmerz lindert, den meine Lebenswunden mir zu gefügt haben. Dabei ist es übrigens egal, worüber ich gerade schreibe.
Ist Schreiben ein Schutz vor der Welt?
Schreiben kann mein Schutz sein, und gleichzeitig öffnet es mich für den Schmerz und ein Miteinander. Es gibt diese zwei Seiten der Medaille. Bei den Arbeiten von Munch geht es zum Beispiel um seinen Verlust: Er war erst fünf, als er seine Mutter verloren hat, und als Teenager hat er seine Schwester verloren. Seinen Verlust zu malen ist wiederum das Gegenteil von Verlust: Es ist die Entstehung von etwas Neuem. Du verdoppelst also nicht den Schmerz, wenn du über ihn malst und schreibst. Und nur wenn ich schreibe, fühlt es sich für mich nach Heilung an.
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Kann man schreiben, ohne sich seinen eigenen Abgründen zu stellen?
Ich schreibe einfach. Und ich weiß auch nicht, wann die Wunden brennen. Als mein erstes Buch in Norwegen erschienen ist, war es ein Erfolg. Danach war der Erwartungsdruck so hoch, dass ich vier Jahre gar nichts mehr schreiben konnte. Ich wollte an meinen Erfolg an knüpfen und habe mich inhaltlich nur wiederholt. Kein Anlauf, kein Versuch war gut. Erst Jahre später habe ich mich getraut, etwas ganz anderes zu veröffentlichen. Du darfst dich dem Erwartungsdruck nicht beugen.
Geht das denn?
Die Zweifel überfallen mich erst, wenn ein Roman beendet ist. Dann quäle ich mich mit Fragen wie: Wer wird dieses Buch jemals lesen? Das, was du lieferst, reicht nicht! Die Kritiker werden mich zerreißen. Aber ich habe gelernt, Erwartungen runterzusetzen. Ich erwarte einfach nichts mehr von meinem Schreiben, die Schwelle ist ganz niedrig.
Das ist doch jetzt Fishing for Compliments! Sie sind ein preisgekrönter Bestsellerautor!
Wirklich. Wenn du den Druck selbst rausnimmst, geht alles plötzlich ganz einfach.
Klingt nach selbstbestimmter Freiheit.
Das hat auch bei der Munch-Ausstellung funktioniert. Ich bin weder Kunstexperte noch Kurator, ich hatte keine Ahnung, nur meine Liebe zur Kunst. Ich habe zu dieser Herausforderung einfach Ja gesagt und zwar ohne Selbstbewusstsein und mit vielen Ängsten während des Prozesses. Sich radikal in etwas reinstürzen, das ist das Entscheidende, das habe ich von Munch gelernt. Der Spaß lag auch darin, aus der Vielzahl von Munchs Werken etwas herauszugreifen, das mich reizt, wofür ich jederzeit geradestehen kann. Daraus sind meine vier Munch-Räume entstanden, die ich wie vier Kapitel eines Buches angeordnet habe: „Licht und Landschaft“, „Der Wald“, „Chaos und Kraft“ und „Die Anderen“.
Könnten Sie jetzt unter Hunderten von Werken verschiedener Künstlerinnen und Künstler jeden Munch erkennen?
Ja, ich denke schon.
Haben Sie in den Arbeiten des Malers etwas entdeckt, in seiner Art und Weise, etwas zu schaffen, das Sie bei sich vermissen?
Ich habe Maler immer beneidet. Sie müssen nie durch diese abstrakten, wortreichen Räume gehen. Sie kommen direkt zur Sache. Malerei ist reine Emotion. Das wollte ich mit meinem Schreiben immer schaffen, reine Emotionen. Aber das geht nie so unmittelbar, ich muss den Raum kreieren, den die Leserin, der Leser betritt. Man kann den Prozess nicht wirklich vergleichen. Munch war sehr schnell, manchmal brauchte er nur eine knappe Stunde für ein Bild. Das Schreiben eines Romans dauert so ewig lange. Ein, zwei, manchmal drei Jahre und dann muss ich noch eine Fortsetzung schreiben, um an den Punkt zu kommen, den ich ausdrücken wollte.
Es geht ebenso sehr darum zu suchen, wie darum etwas zu erschaffen.
Karl Ove KnausgårdTweet
Sie leben heute in London. Hilft Ihnen das Betrachten eines Munch-Bildes gegen Heimweh?
Nein.
Fahren Sie noch oft nach Norwegen?
Ich reise nicht mehr viel und nicht mehr gerne.
Warum nicht?
Reisen, Menschen treffen raubt mir Energie, lenkt mich von meinem Fokus ab. Ich muss schreiben, lesen, recherchieren.
Dann bin ich gerade so eine Energieräuberin, sorry!
(Knausgård lacht)
Aber Sie haben doch einen Alltag, Familie, Elternabende, leben in einem Patchwork-Haushalt mit sieben Kindern, wie finden Sie da Ruhe zum Schreiben?
Ich schotte mich ab. Das Schreiben ist mein Job. Die größeren Kinder gehen in die Schule, und ich bringe meine Jüngste morgens in die Kita. Ab halb zehn kann ich für fünf Stunden am Schreibtisch sitzen. Ausnahmslos. Nur das Wochenende ist schreibfrei.
Gehen Sie nicht mal zum Kühlschrank, schummeln ein bisschen bei den fünf Stunden? Sind Sie immer diszipliniert?
Wenn es nicht läuft, nehme ich ein Bad, lege Sachen zusammen oder gehe shoppen.
Sind diese fünf Stunden das Zeitfenster, in dem Sie aus Ihrer Komfortzone heraustreten?
Ja, und zugleich muss ich Geborgenheit um mich herum spüren.
Was gibt Ihnen diese Geborgenheit?
Der Raum, in dem ich schreibe. Der Blick aus meinem Fenster und die Musik, die ich dabei höre.
Sie hören Musik beim Schreiben?
Ich spiele denselben Song immer und immer wieder. Dabei entferne ich mich von mir, vom Alltag und betrete meinen kreativen Raum.
Punk, Rap, Klassik oder Morton Harket?
Weder noch, ich höre eine US-Band aus Nashville namens Lambchop.
Stört das Ihre Konzentration nicht?
Nein, ich tauche durch den Sound sofort wieder in meine Story ein. Es ist wie nach Hause kommen, ein sicherer Raum im Rhythmus der Beats, ein Ort, den ich kenne und der mich schützend umhüllt. Mit achtzehn habe ich so unglaublich laute Musik aufgedreht, um mich für das Schreiben zu rüsten. Ähnlich wie das Fußball-Profis vor einem Spiel machen. Mittlerweile hat die Lautstärke nachgelassen.
Wen oder was brauchen Sie noch?
Meinen Lektor. Ich brauche sein Feedback, um handeln und weiterschreiben zu können. Oft sogar jeden Tag. Wenn ich aus dem aktuellen Text heraustrete, fühlt es sich für mich extrem riskant, ungeschützt und gefährlich an und nur mein Lektor beruhigt mich dann. Er sagt mir: „Karl Ove, alles ist gut und du bist auf dem richtigen Weg.“
Worum geht es in der Kunst?
Es geht ebenso sehr darum zu suchen, wie darum etwas zu erschaffen.
Wonach suchen Sie?
Nach Eingängen zur Wirklichkeit, nach Öffnungen zur Welt.
Danke für das Gespräch.