Selbst im Jahr 2022 strotzen viele Kinderbücher immer noch so vor Geschlechter-Stereotypen: Mädchenfiguren werden als besonders fürsorglich dargestellt, Jungenfiguren als abenteuerlich. Sollten wir sie daher nicht mehr lesen?
"Julien: Los Leute, lasst uns fahren, bevor wir sie aus den Augen verlieren ... Anne: Aber ich habe Tante Fanny versprochen, ihr beim Marmelade kochen zu helfen ... Ach lass nur Anne, bleib nur hier und hilf Tante Fanny - na dann los! Kommst du Dick? ...“
Ob Enid Blyton diese Szene aus den "Fünf Freunden" heute noch genauso schreiben würde? Vielleicht hätte Julien ja auf das Abenteuer verzichtet und stattdessen lieber Marmelade mit Tante Fanny gekocht. Und nicht Anne, die als Mädchen auch noch liebend gerne mit Puppen spielt (natürlich!) und stets darauf bedacht ist, dass alles sauber ist und es genug Essen für die Bande gibt. Klar, da gibt's auch noch Georgina, das einzige mutige Mädchen in der Gruppe – aber die will eigentlich viel lieber ein Junge sein und lässt sich daher auch nur "George" nennen. Liest man Blyton Kinderbuchklassiker im Kontext der heutigen Zeit, stechen einem die veralteten Rollenbilder und frauenfeindlichen Äußerungen nur so ins Auge.
Lies auch:
- Geschlechtsneutrale Erziehung: Wie geht das?
- Mehr Feminismus im Unterricht: Schüler:innen kämpfen gegen Sexismus
- Feministische Bücher: 13 MUST-READ Buchtipps
Geschlechterklischees in Kinderbüchern
Die "Fünf Freunde" sind da natürlich keine Außnahme. Genderstereotype und sexistische Inhalte finden sich in Kinderbüchern überall: Von Prinzessin Lillifee, die als weibliche, charakterlose Protagonistin völlig auf ihr Äußeres reduziert wird und die (wie es von Frauen erwartet wird) in ihrer pinken Glitzer-Feenwelt immer nur versucht, andere glücklich zu machen. Bis hin zur Bilderbuchfigur Conni, die ihrer Mutter im Haushalt hilft, während der Vater auf der Arbeit ist. Dass weibliche Figuren die Hauptrolle in Kinderbüchern spielen, ist übrigens immer noch die Ausnahme: Eine Studie aus dem Jahr 2017 fand heraus, dass die Protagonist:innen in den meistverkauften Bilderbüchern doppelt so oft männlich wie weiblich sind.
Eine neuere Studie hat jetzt 247 Kinderbücher, darunter Klassiker und aktuelle Bestseller, auf Geschlechterdarstellungen hin untersucht und gezeigt, dass sich auch heute noch viele Klischees in den Erzählungen finden lassen. So seien weibliche Figuren häufig besser in Sprachen, männliche eher in Mathematik. Interessant ist auch, dass sich viele Klischees schon in den Wortbeschreibungen rund um die Protagonist:innen manifestieren: Mädchen würden häufiger mit Verben der Zuneigung und der Kommunikation in Verbindung gebracht ("zuhören", "erklären"), während sich die Sprache der Jungen häufig auf Arbeit oder Werkzeuge bezieht.
Wie können Eltern mit Gender-Stereotypen in Büchern umgehen?
Wenn Kinder solche Bücher lesen oder vorgelesen bekommen, werden ihnen (wenn auch unterbewusst) schon bestimmte Vorstellungen davon, wie ein bestimmtes Geschlecht zu sein oder nicht zu sein hat, vermittelt. Auch die Hauptstudienautorin Molly Lewis vom Dietrich College of Humanities und Social Sciences weist darauf hin, dass wir "möglicherweise etwas darauf achten [müssen], was diese Botschaften sein könnten und ob es sich um Botschaften handelt, die Sie überhaupt an Kinder weitergeben möchten." Der Zwiespalt, der sich dadurch heute für Eltern und Erziehungsberechtigte auftut, ist verständlich: Wer selbst mit den Abenteuern der Fünf Freunde groß geworden ist, will die Geschichten mit Sicherheit auch an die eigenen Kinder weitertragen. Nostalgische und schöne Erinnerungen an die Bücher aus der Kindheit verklären unsere Sicht auf die problematischen Botschaften, die in den Erzählungen verborgen sind. Doch das bedeutet nicht, dass wir diese Geschichten nicht mehr vorlesen können. Wir sollten sie lediglich im Kontext der heutigen Zeit lesen und auch mit Kindern darüber sprechen. Hier ein paar Tipps, wie Eltern mit stereotypen Geschlechterkonstruktionen und Sexismus in Kinderbüchern umgehen können:
1. Eine Diskussion mit dem Kind anregen
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kinder auch heute noch Bücher lieben, in denen veraltete Geschlechterrollen vorkommen. In solchen Fällen können Eltern oder andere Erziehungsberechtigte die Situation nutzen, um Kinder darüber aufzuklären. Diese beginnen nämlich schon in sehr frühem Alter, ihnen vorgegebene Geschlechterrollen zu verinnerlichen, wie Studien zeigten. Wenn also gerade eine Textpassage vorgelesen wurde, in der klassische Klischees auftauchen, können Vorlesende darauf aufmerksam machen und mit bestimmten Fragen eine Diskussion anregen. Ein paar Beispiele:
- "Fällt dir auch auf, dass Anna immer nur pinke Kleidung trägt? Ich frage mich, warum Ben eigentlich nie pinke Sachen trägt?"
- "Glaubst du, dass es eine Rolle spielt, ob du ein Junge oder Mädchen bist, um Ärzt:in, Mechaniker:in, Lehrer:in... zu werden?"
- "Findest du es okay, dass Tim die Lisa als 'zickig' bezeichnet hat? Was bedeutet das eigentlich?"
- "Wie findest du es, dass Leonies Mama immer nur kocht? Schmeckt das Essen dann besser? Könnte nicht auch ihr Vater kochen?"
2. Kleine Details in der Geschichte ändern
In der Geschichte ist die Mutter zuhause und kocht Essen, der Vater auf der Arbeit und der Sohn auf dem Bolzplatz? Manchmal lassen sich beim Vorlesen auch einfach die Rollen umdrehen: So ist die Mutter vielleicht tagsüber arbeiten und der Vater zaubert das Abendessen. Oder vielleicht lässt sich der Feuerwehrmann ganz beiläufig in eine Feuerwehrfrau umändern. Wer will, kann auch sein Kind einbeziehen und die Geschichte mit kleinen Post-its, die auf die Seiten geklebt werden, umschreiben. Vielleicht kann im Bilderbuch über der Figur eines Jungen eine Gedankenblase eingefügt werden, weil er sich möglicherweise denkt: "Ich möchte morgen auch gerne etwas Pinkes anziehen!".
3. Bücher mit diversen Protagonist:innen vorlesen
Die Autor:innen der oben genannten Studie fanden heraus, dass Kinder am häufigsten mit den Stereotypen ihres eigenen Geschlechts ausgesetzt sind. Wenn Mädchen nur Geschichten mit weiblichen Hauptfiguren hören und Jungen umgekehrt, verfestigen sich bestimmte Vorstellungen des eigenen Geschlechts umso mehr. Dabei könnte es zum Beispiel für Jungen wichtig sein zu sehen, dass auch Mädchen eine Hauptrolle spielen können. Generell gilt: Je größer die Bandbreite an Geschlechtern, Rollen und Sexualitäten, die das Kind durch das Vorlesen erfährt, ist, desto besser!
Positivbeispiele: Diese Kinderbücher greifen nicht in die Klischeekiste
Glücklicherweise gibt es auf dem heutigen Kinderbuchmarkt auch Werke, die deutlich inklusiver, feministischer und diverser sind als Geschichten es noch vor 50 Jahren waren. Mittlerweile gibt es auch schon überarbeitete Kinderbuchklassiker, die in einer geschlechtsneutralen Version veröffentlicht wurden. So wird zum Beispiel auch gerade der "Wunderweltenbaum" von Enid Blyton genderneutral überarbeitet. Das Projekt "Fairytales Retold" veröffentlicht klassische Märchen in moderner und zeitgemäßer Version. Und auch diese Bücher sind so geschrieben, dass sie gängige Rollenbilder aufbrechen und Geschlechterkonstruktionen hinterfragen:
- "Raffi und sein pinkes Tutu" von Ricardo Simonetti
- "Alles Rosa" von Maurizio Onano
- "Prinzessin Pfiffigunde" von Babette Cole
- "Greta haut ab" von Pija Lindenbaum
- Bücherreihe "Little people, big dreams"
- "Julian ist eine Meerjungfrau" von Jessica Love
- "Männer weinen" von Jonty Howly
- Die Prinzessin in der Tüte von Robert Munsch
- Olivia ist doch keine Prinzessin von Ian Falconer
Mehr Themen: