Zärtlichkeit ist nicht nur in der Partnerschaft wichtig. Sie kann sogar die Welt retten. Wie Sanftheit uns weiter bringt als Härte.
Zärtlichkeit kann nicht nur unsere Partnerschaft, sondern sogar die Welt retten!
Sanftheit statt Härte – kann man mit mehr Zärtlichkeit die Welt retten? Ja, meint die italienische Philosophin Isabella Guanzini. Und das soll realitätsnah, jenseits von Kitsch oder Romantik funktionieren...
"Mach sie mit Liebe kaputt" – ein kluger Rat von Oma
Manchmal bekommt man im Leben Ratschläge, über die man lange nachdenken muss, bis man versteht, wie klug sie sind: "Mach sie mit Liebe kaputt", sagte Oma Anni immer zu mir, wenn ich Kummer mit gehässigen Mitschülern hatte. Dieser Satz hallte nach, jedes Mal, fühlte sich wertvoll an und zerfiel gleichzeitig in lauter kleine Fragezeichen. Wie kann man Liebe benutzen, um etwas kaputtzumachen? Im Laufe meiner Jugend begriff ich: Die schärfste Waffe von Oma Anni, dieser lieben, leisen alten Westfälin, konnte niemanden verletzen, sondern hatte eine ganz andere Superkraft: Menschen zueinanderbringen, die eigentlich unversöhnlich miteinander sind.
Wer Erfolg haben will, ist lieber tough – dabei kann Zärtlichkeit die Welt retten
Die italienische Philosophin Isabella Guanzini hat jüngst ein Buch über diese besondere Stärke geschrieben. "Zärtlichkeit – Eine Philosophie der sanften Macht" heißt es, und sie erklärt darin, wie man mit so etwas scheinbar Altmodischem wie der Zärtlichkeit die ganze Welt retten könnte – würden wir sie bloß in uns selbst wiederentdecken und universeller ausleben. Denn sie sei zu einem "Nahrungsergänzungsmittel des Privatlebens geworden". Etwas, das wir außerhalb unserer Partnerschaft ungern einsetzen. Denn wer Erfolg haben will, ist lieber tough, bewegt sich zwischen cool inszenierten Instagram-Accounts, kennt sich bestens mit Shitstorms aus und trägt am liebsten ein Teflon-Mäntelchen, um sich vor der Schroffheit unseres Zeitalters zu schützen.
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Warum so überzivilisiert? Einfach und zärtlich reicht doch!
Besonders wir überzivilisierten, vermeintlich so auf Achtsamkeit trainierten Menschen, die wir zwischen ständiger Sinnesüberreizung und Selbstoptimierung oft den Bezug zur Zärtlichkeit völlig verloren haben, spricht Guanzini mit ihrem Buch an. Und nennt diese Gattung Großstadtmensch "homme blasé" (heißt grob übersetzt: "abgestumpfter Mensch"). "Er hat nie gelernt, wofür es sich lohnt, weich zu werden. In seiner Desorientierung begnügt er sich damit, sich für sich selbst zu erweichen und den kleinen Genüssen nachzugeben, die als alternative Therapien für die vielfältigen Krankheiten unserer Zeit angepriesen werden." Und so führen wir Glückstagebücher, laden uns Achtsamkeits-Apps herunter und tragen Smartwatches, damit wir auch ja genug Schritte am Tag machen, um uns am Ende desselben keine Vorwürfe machen zu müssen, zu wenig auf unsere Gesundheit geachtet zu haben. Aber der Blick über den so engen Tellerrand der eigenen Befindlichkeiten will einfach nicht mehr recht gelingen, scheint es.
Wer in der Lage ist, sich selbst zu verzeihen, dem fällt es auch bei anderen leichter
Guanzinis Begriff der Zärtlichkeit ist wie ein Plädoyer für die Weichheit. Sie bedeute "Widerstand gegen alles, was sich wie eine Mauer erhebt, gegen alles, was wie ein Faustschlag, wie ein Diktat auftritt, wie eine glatte, abweisende Oberfläche, die keine Öffnung, Veränderung und Vermischung mit dem Menschlichen zulässt". Mit Zärtlichkeit meint Guanzini gleichwohl Empathie und Nächstenliebe – das besondere Gespür für die Anzeichen der gegenseitigen Verletzlichkeit. Und das schließt auch die nötige Portion Selbstmitgefühl mit uns ein, das uns nachsichtig mit uns macht. Wer in der Lage ist, sich selbst Fehler zu verzeihen, dem fällt es auch bei anderen leichter.
Lovestorm statt Shitstorm: Neue Freundlichkeit in Communitys
Was passiert, wenn aus solch einer inneren Haltung der Zärtlichkeit eine Bewegung wird, kann man seit einiger Zeit bei Facebook unter dem Hashtag #ichbinhier beobachten. Gegründet wurde sie vom Hamburger Kommunikationsberater Hannes Ley, der damit etwas gegen die Verbreitung von Fake News und Hass im Netz unternehmen wollte – ein Phänomen, das oft insbesondere im Zusammenhang mit Diskussionen über Flüchtlinge und Ausländerfeindlichkeit auftritt. Dabei geht es bei #ichbinhier weniger um das Wahren der klassischen Netiquette – sondern darum, der verbalen Wucht, mit der sich Kommentarschreiber aller Fronten im Internet oft gegenseitig hochschaukeln, mit freundlichen und sachlichen Beiträgen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Jeder, der Leys Hashtag benutzt, kann sich so unter Beiträgen einklinken, in denen beschimpft und getrollt wird, um die Atmosphäre mit höflicher Counterspeech zu "entgiften". "Ich möchte, dass sich etwas in unserer Diskussionskultur ändert", schreibt Ley in seinem Buch „#ich bin hier“ (DuMont-Verlag). "Weil ich fürchte, dass die Art und Weise, wie auf Facebook miteinander gestritten wird, nicht nur extrem unerfreulich ist, sondern sogar die Grundlagen unseres Zusammenlebens, unser gesellschaftliches Miteinander infrage stellt." Leys Gruppe zählt mittlerweile über 45.000 Mitglieder – er glaubt, dass all diese Menschen den Hass einfach satthaben. "Er gräbt an den Fundamenten der Gesellschaft, macht aus Menschen, die gemeinsam Probleme lösen sollen und das im Grunde auch tun müssen, erbitterte Feinde. Er zerstört die Demokratie, weil er die Unversöhnlichkeit zelebriert, den Kompromiss als Schwäche darstellt", so Ley.
Häufig meinen wir es nur gut, servieren unsere Dogmen dabei aber mit zu viel Härte
Wir sollten müde sein des Hasses und der Härte. Genau darin sieht auch Isabella Guanzini die Chance auf Veränderung in unserer Gesellschaft: "In unserer Müdigkeit fühlen wir uns alle kleiner. Sie miteinander zu teilen ist daher eine Form der Zärtlichkeit." Guanzini beschwört immer wieder, dass wir uns unserer gemeinsamen verwundbaren Menschlichkeit bewusst werden sollten. Es fällt uns so leicht, andere für ihr vermeintliches Fehlverhalten, ihre schrägen Meinungen, ihren Lebensstil zu verurteilen – und sind dabei hoffnungslos gefangen in unserer eigenen Egozentrik. Vielleicht meinen wir es dabei manchmal sogar gut, möchten andere von Dingen überzeugen, die die Welt besser machen könnten – doch unsere Dogmen servieren wir dabei oft mit zu viel Härte.
"Was sich nicht abbürsten lässt, muss man abstreicheln",
schrieb der römische Epiker Ovid schon in der Antike.Tweet
Die Macht der Berührung
Zärtlichkeit, das heiße im übertragenen Sinne "berühren" und auch "sich berühren lassen". "Wir brauchen eine neue Poetik der Beziehungen", sagt Guanzini. "Vor dem dramatischen Hintergrund der Lebensgeschichten von Menschen ohne Identität, ohne Heimatland, ohne Zukunft, ohne Staatsbürgerschaft, ohne Gemeinschaft entsteht derzeit eine neue Art, der Welt zu begegnen, die Prozesse der Anerkennung und der Nähe in den Mittelpunkt stellt." So lautet jedenfalls ihre Vorstellung für einen veränderten, zärtlichen Umgang mit unseren Mitmenschen – mehr Verständnis und Mitgefühl.
Mit sanfter Macht die Fronten aufweichen
Wenn man plötzlich im von Demonstrationen aufkochenden Paris Gelbwesten-Frauen sieht, die sich als Menschenkette Polizisten in voller Schutzmontur entgegenstellen und die dann statt Beschimpfungen oder Gewaltandrohungen den Polizisten "un bisou" entgegenwerfen – "ein Küsschen" –, dann ist das ein Paradebeispiel für die Weichheit, von der sich Isabella Guanzini mehr auf dieser Welt wünscht. Diese sanfte Macht, die Fronten aufweicht, ist quasi wie ein Überraschungsangriff auf die Abwehrhaltung des Gegenübers. Und erst an diesem Punkt können wir meist anfangen zu reden – und Beziehungen knüpfen.
Hätte Oma Anni gewusst, dass ihr Leitspruch "Mach sie mit Liebe kaputt" wieder so aktuell werden würde, sie hätte sich wohl gefreut, diese stille, kluge Frau. Dass man damit sanfte Revolutionen lostreten kann, und sei es nur im eigenen Umfeld, wusste sie ja schon ganz genau.
Weiterlesen: Dieser Artikel stammt aus der EMOTION SLOW Ausgabe 01/2019. EMOTION SLOW bestellen (versandkosten- und plastikfrei)
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