In diesem Monat hat unsere Chefredakteurin Katarzyna Mol-Wolf die Schweizer Philosophin Dr. Barbara Bleisch zum Interview getroffen.
Auf dem Philosophicum in Lech habe ich die Schweizer Philosophin Dr. Barbara Bleisch im Rahmen des Events „Philosophieren auf dem Berg“ unseres Schwerstermagazins HOHE LUFT kennengelernt. Sie diskutierte mit Chefredakteur Thomas Vašek über Perfektionisten und Selbstoptimierer und streifte das Thema, ob jeder von uns politische Pflichten hat. Daran haben wir im Café Terrasse in Zürich angeknüpft.
Von Ihnen stammt der Satz „Ein Mensch, der sich vom Leid anderer nicht beeindrucken lässt, führt kein gutes Leben“ - in unserem Leben geht es eben nicht nur um mich, sondern auch um die anderen.
Ja, denn meiner Meinung nach ist das persönliche Streben nach Freiheit und Eigenverantwortung nicht möglich ohne einen Grundsockel an Gerechtigkeit für alle. Der schiere Umstand, dass es für mein Leben und meine Chancen so ausschlaggebend ist, wo ich geboren wurde, verlangt nach Demut und Dankbarkeit - und nach Einsatz für jene, die weniger Glück hatten. Ich habe einen Teil meiner Kindheit in Lesotho verbracht, und ich denke immer wieder: Ich hatte sehr viel Glück in meinem Leben. Diese Einsicht, dass es ganz viele Dinge gibt, die ich nicht mir zuzuschreiben habe, sondern die mir einfach geschenkt worden sind, hat mich geprägt.
Aktuell fühle ich mich dennoch zerrissen zwischen meinen moralischen Pflichten den Flüchtlingen gegenüber und meinen familiären Verpflichtungen, die ich aufgrund meines Arbeitspensums schon schwer erfüllen kann. Wie viel sollte ich helfen?
Die Philosophie kann hier keine klare Antwort geben. Die Antwort hängt davon ab, welcher philosophischen Theorie Sie anhängen. Denken Sie eher konsequentialistisch, wie z.B. Peter Singer, dann sind Sie verpflichtet, sehr viel zu tun. Denken Sie eher tugendethisch, würden Sie zunächst überlegen, worin ein gutes Leben besteht, bei dem es nicht nur um die Hilfe für andere, sondern auch darum geht, eigene Talente zu entfalten, sich persönlich weiterzuentwickeln, etc. Bei dieser Fragestellung ist es aber wichtig, dass wir uns vor Augen führen, dass Probleme, die eine ganze Gesellschaft betreffen, im Alleingang nicht zu lösen sind. Es geht vielmehr darum, uns gemeinsam zu engagieren. Dabei denke ich vor allem an die Politik. Denn in demokratischen Systemen haben alle Menschen auch politische Pflichten. Das heißt, wir sollten primär darauf achten, dass wir unsere politische Macht als Bürgerinnen und Bürger, aber auch als Konsumierende nutzen, um Bedingungen zu schaffen, die die aktuell notwendigen Aufgaben möglichst gerecht und effizient verteilen.
Also sollte ich die richtige Partei wählen...
Zum Beispiel. Darüber hinaus ist es sicher gut, sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir werden jedoch zu keiner nachhaltigen Lösung kommen, wenn jeder einzelne im Alleingang los marschiert und unkoordiniert irgendwo anpackt. Vielmehr braucht es gesamtgesellschaftliche, globale Lösungen, das zeigt das Migrationsproblem ganz deutlich. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir alle ein Rädchen in einem System sind - ein System, das wir hinterfragen können - oder stumm mittragen.
Ein Anfang des Hinterfragens kann Empathie sein: Die Fähigkeit, uns vom Schicksal der ankommenden Flüchtlinge überhaupt berühren zu lassen, darüber nachzudenken, wie es uns an deren Stelle ginge, welche Gründe wir haben müssten, um alles zu verlassen, was wir besitzen und was uns vertraut ist. Dann fällt es uns vielleicht leichter, die Menschen hinter den 'Flüchtlingsströmen' zu sehen und deren Motive richtig einzuordnen, und zu fragen, was eine gerechte Idee von politischen Grenzen bedeuten würde.
Zur Frage meiner ethischen Verpflichtung den Flüchtlingen gegenüber kann mir die Philosophie also zumindest keine Pauschalantwort liefern...
Es ist tatsächlich philosophisch strittig, wozu der Einzelne verpflichtet ist. Ich selbst vertrete eine kantianische Position, die davon ausgeht, dass wir zu helfen verpflichtet sind. Dass wir also auch im Sinne eines moralischen Imperativs aufgerufen sind, anderen Menschen zu helfen und wir keine moralischen Helden sind, wenn wir andere unterstützen. Kant gibt jedoch kein Maß an, wie viel zu helfen ist. Vielmehr geht es darum, sich einzugestehen, dass wir alle verletzliche Individuen sind und voneinander abhängig. Dem moralischen Imperativ zu folgen heißt auch, vor sich selbst gerade stehen zu können: Sich zu überlegen, ob man gerade so handelt, dass man andere davon überzeugen könnte, dass man das Richtige tut? Das scheint mir der bessere Ausgangspunkt zu sein, als nur zu überlegen, ob ich mein Soll bereits erreicht habe.
Aber eine Einschränkung muss ich noch anfügen: mir fällt es schwer jemandem zu helfen, der Zuhause seine Frau unterdrückt oder die Rechte seiner Frau nicht schätzt. Denn meines Erachtens müssen auch die Migranten das Grundgesetz unseres Landes vor der Religionsfreiheit wahren.
Wir sollten den Begriff der Unterdrückung vorsichtig verwenden. Und wir müssen akzeptieren, dass unser Freiheitsverständnis nicht das einzige ist. In anderen Kulturen existieren Freiheitsverständnisse, die weniger die individuelle Freiheit betonen, als den Wert der Gemeinschaft, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Freiheit, sich zu etwas zu bekennen. Die Vorstellung, Teil einer Gemeinschaft zu sein und die eigenen Interessen der Gemeinschaft unterzuordnen, muss nicht zwingend als eine Beschränkung der Freiheit erfahren werden. Solche kollektiven Freiheitsverständnisse sind für uns zunächst einmal schwierig zu verstehen.
Wir sollten also in unserer Bewertung vorsichtiger sein, was für den einzelnen Freiheit und was Unterdrückung heißt. Wie bewerten Sie dann aber zum Beispiel ein Kopftuch?
Ein Kopftuch zu tragen, ist nicht zwingend Ausdruck davon, unterdrückt zu sein. Der gut gemeinte aufklärerische Gestus, andere Frauen vom Kopftuch zu befreien, ist oft wenig fundiert und fragt nicht danach, wie diese Frauen das Kopftuch erfahren. Das Tragen einer Burka ist sicher problematischer und wird entsprechend kontroverser beurteilt. Aber bevor wir über Verbote diskutieren, scheint mir die gewichtigere Frage zu sein, was wir dazu beitragen können, dass Frauen in allen Kulturen respektiert und geachtet werden. Ob Verbote dafür zielführend sind, ist unklar. Zuweilen verhindern Verbote gerade den Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Kulturen.
Wir sollten aber auch sehen, dass viele Menschen Angst vor den fremden Kulturen haben, die gerade nach Deutschland kommen und erstarken.
Das Fremde macht meiner Meinung nach dann Angst, wenn wir in unseren eigenen kulturellen Werten nicht gefestigt sind. Wir sollten deshalb mehr darüber nachdenken, was unsere Kultur und Identität ausmacht. Wenn wir uns bewusst machen, worauf wir selbst stolz sind, dann ist eine Kultur, die ihrerseits auf ihre Werte stolz ist, für uns nicht mehr so bedrohlich. Es ist auch bemerkenswert, dass wir es ein Stück weit verlernt oder abgelegt haben, öffentlich über religiöse Kultur nachzudenken. Das ist die Folge der Säkularisierung. Religiöse Gemeinschaften machen Angst, weil wir selber keine Gesellschaft mehr sind, die sich auf religiöse Werte beruft, die stark identitätsstiftend wirken. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die Idee Europas durchaus auf Werten basiert, für die es sich einzustehen lohnt. Es sind säkulare Werte, die aber eine große Wirkung entfalten konnten, beispielsweise mit Blick auf die Entwicklung der Menschenrechte.