In kreatives Schaffen abzutauchen senkt das Stresslevel und gibt ein wohliges Gefühl von Selbstwirksamkeit. Aber wie zur Hölle kommt man in diesen magischen Zustand? Das haben wir Coachin Tanja Queckenstedt gefragt. Spoiler: Man braucht Geduld.
Frau Queckenstedt, was bedeutet für Sie Kreativität und wie leben Sie sie im Alltag aus?
Ich versuche, neugierig zu bleiben und ungewöhnliche Lösungen für Herausforderungen zu finden. Das heißt, dass ich immer mal wieder um die Ecke denke und die gewohnten Bahnen verlasse, um etwas Neues auszuprobieren. Das kann man übrigens auch spielerisch in den Alltag integrieren. Allerdings bedeutet für mich Kreativität auch kreative Betätigung, die es erlaubt, dem Alltag zu entfliehen und der Fantasie freien Lauf zu lassen. Ich empfehle, Dinge zu hinterfragen und zu versuchen, sie neu zu kombinieren, in jeder Möglichkeit out of the box zu denken und fürsorglich mit sich selbst umzugehen.
Wir verbinden Kreativität ja oft mit Berufen, die eher künstlerisch sind, etwa mit Schriftsteller:innen oder Musiker:innen. Wie bringe ich aber mehr Gestaltungsfreiraum in meinen Beruf, auch wenn der erst mal nicht kreativ angelegt ist?
Es stimmt, dass wir in unserer Gesellschaft eine gewisse Vorstellung von Kreativität haben. Ich würde mich allerdings sehr wünschen, dass wir unseren Blick weiten und das Phänomen genauer betrachten. Denn dann werden wir feststellen, dass uns Kreativität überall im Alltag umgibt. Sie war und ist für unsere menschliche Entwicklung elementar, ohne sie hätten wir kein Feuer und kein Dach über dem Kopf. Ich werde oft gefragt, wie es gelingt, in "unkreativen" Berufen wie zum Beispiel der Buchhaltung kreativ zu sein. Aber auch die buchhalterische Struktur gelangt mal an ihre Grenze, sodass es sich vielleicht lohnt, Prozesse anders zu gestalten und lösungsoffener zu denken.
Kann mir Kreativität auch dabei helfen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und mich besser kennenzulernen?
Ja, absolut. Durch kreative Betätigung verbinde ich mich mit mir selbst und bringe dies auch zum Ausdruck. In unserer stressigen Welt verlieren wir oftmals den Kontakt zu uns selbst und leben sehr danach, was das Außen von uns verlangt. Bei kreativer Betätigung können wir zum einen unkonventionell vorgehen und dabei ein Gefühl von Selbstwirksamkeit erleben. Zum anderen ermöglicht uns dieser Prozess, wieder in Kontakt mit unseren Emotionen zu kommen.
In Ihrem Buch "Ein Kopf voller Ideen" über Kreativität im Alltag schreiben Sie auch über Achtsamkeit. Wie kann uns diese unterstützen, kreativer zu sein?
Achtsamkeit hilft uns dabei, unsere Umgebung wieder wahrzunehmen und die Augen für Neues zu öffnen. Eins ihrer Attribute ist laut des Achtsamkeitsforschers Jon Kabat-Zinn zum Beispiel, "den Geist des Anfängers" zu bewahren. Die Offenheit für Neues ist für Kreativität elementar, denn wenn ich immer in meinen gewohnten Bahnen verharre, wird es mir nicht gelingen, Neues entstehen zu lassen.
Kommen wir zu einem der Hauptfeinde der Kreativität: Wie sehr hält uns Stress vom kreativen Flow ab?
Stress ist grundsätzlich nicht besonders förderlich für den kreativen Prozess. Durch Stress geraten wir in den sogenannten Tunnelblick-Modus. Kreativität braucht aber einen weiten und offenen Blick. Auch kann uns der beglückende Flow-Moment nur dann heimsuchen, wenn wir uns voll und ganz einer Tätigkeit hingeben, in der wir weder über- noch unterfordert sind. Also eine, die unsere volle Konzentration beansprucht, bei der wir aber auch volle Zuversicht haben, sie bewältigen zu können. Dies ist der Moment, in dem wir völlig zeitvergessen im Hier und Jetzt sind und die perfekte Balance zwischen Anforderung und Fähigkeit erleben.
Sich auf diese Weise kreativ auszuleben mindert also Stress?
Genau, kreative Betätigung kann sehr stressreduzierend wirken. Eine großartige Win-win-Situation sozusagen. Damit hat auch wieder der Flow zu tun, in dem man alles um sich herum, aber auch alles in seinem Inneren vergisst – vor allem negative Gedanken, Sorgen und Kummer. Studien zufolge vermindern bereits 45 Minuten kreativer Arbeit am Tag das Stresslevel in Körper und Geist nachhaltig und lassen das Cortisol-Level sinken – dabei war es egal, ob die Proband:innen kreative Vorerfahrungen hatten oder besonders gut in dem waren, was sie machten.
Es spricht also viel für kreative Auszeiten. Aber was ist mit der Kehrseite: Entsteht nicht auch ein neuer gesellschaftlicher Druck, wenn ich immer und überall kreativ und innovativ sein soll – im Beruf und im Alltag, in sozialen Medien?
Ich habe nichts davon, etwas leben zu müssen. Ich verstehe Kreativität als Einladung. In unserer Leistungsgesellschaft erwarten wir ja immerzu direkte Ergebnisse, die wir öffentlich präsentieren können. Ein kreativer Prozess lässt sich aber nicht so einfach steuern, und der Geistesblitz kommz auch nicht auf Knopfdruck. Im Gegenteil. Einfach einmal nichts zu tun ist für die Kreativität ebenso förderlich wie Geduld. Überhaupt geht es bei kreativen Überlegungen und Betätigungen nicht um das Ergebnis, sondern um den Wg dorthin. Der Begründer der Flow-Forschung, Mihály Csíkszentmihályi, sagt: "Was wirklich zählt, ist nicht, ob Ihr Name an einer anerkannten Entdeckung klebt, sondern ob Sie ein erfülltes und kreatives Leben geführt haben."
Dieser Artikel erschien zuerst in EMOTION 08/09/22.
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