Trauer bewältigen: Wie gehen wir mit dem Tod eines geliebten Menschen um? Trauerexpertin Anemone Zeim erklärt im Interview, was nach einem Verlust hilft.
Der Tod ist selbstständig, um den müssen wir uns nicht kümmern. Es geht viel mehr darum, wie man weiterleben kann. Die Beschäftigung mit der Trauer ist auch die Beschäftigung mit dem Leben.
Anemone Zeim, TrauerexpertinTweet
Trauer bewältigen: was nach einem Verlust hilft
EMOTION: Wir wissen alle, dass wir sterben werden. Warum haut es so viele Menschen um, wenn sie mit dem Tod konfrontiert werden?
Anemone Zeim: Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir unseren Fokus auf Leben legen. Wir können nicht von morgens bis abends über den Tod nachdenken und gleichzeitig ein erfülltes und glückliches Leben führen, uns verlieben und fortpflanzen. Es ist natürlich, dass wir positiv denken und uns das Thema grundsätzlich eher weniger beschäftigt. Zu erfahren, dass jemand verstorben ist, ist ein enormer Schock. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir alles erneuern und reparieren können. Weil es nicht nur eine Information ist, sondern mit allem in Resonanz geht, was wir bisher erlebt haben. Jeder Trauerfall ist in dem Sinne eine Begegnung mit der eigenen Angst vor dem Tod.
Die Frage, was nach dem Tod geschieht, ist das Einzige, was man nicht googeln kann.
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Was löst diese Angst aus?
Wenn so etwas Unheimliches passiert, wie der Tod, gibt es in anderen Kulturen viele Rituale und Vorgehensweisen. In unserer Kultur nicht. Wo früher noch die Kirche für ritualisierten Halt gesorgt hat, hat der Glaube heute eher an Bedeutung verloren. Und damit auch viele Rituale. Wir haben kaum eine Vorstellung davon, was passiert, wenn ein geliebter Mensch verstirbt. Und die Frage, was nach dem Tod geschieht, ist das Einzige, was man nicht googeln kann.
Können wir uns auf den Umgang mit einem Verlust vorbereiten?
Ich glaube schon. Aus eigener Erfahrung weiß ich, je mehr man unter den Teppich kehrt, desto größer wird später die Beule, über die man irgendwann fällt. Man kann diesem Thema nicht entkommen. Daher finde ich es wichtig, sich mit dem Partner und den Kindern offen über den Tod zu unterhalten. Es hilft immer, einen Plan zu haben, selbst wenn der Plan nicht aufgeht. Darüber zu reden tut gut, weil sich dadurch die Unsicherheit auflösen kann. Und keine Angst: durch ein Gespräch erweckt man keine bösen Omen.
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Wie fühlt sich Trauer an?
Trauer ist ein ganzer Gefühlssalat. Ein Zustand, in dem alles in Frage gestellt wird: Wenn jemand, den ich sehr geliebt habe, einfach so stirbt, kann ich mich auf alles andere auch nicht mehr verlassen. Was ist überhaupt noch sicher? Was ist der Sinn in meinem Leben? Dazu kommen verschiedene Gefühlszustände. Zuerst der Schock und das Nicht-Wahrhaben-Wollen. Damit schützt dich dein Unterbewusstsein vor der Erkenntnis, was passiert ist, damit du nicht komplett umfällst. Du fühlst dich an wie in Watte gepackt und funktionierst erstmal weiter. Oft können Menschen in diesem Zustand auch noch nicht weinen. Viel später kommen dann andere Gefühle, wie zum Beispiel Wut darüber, dass der andere gestorben ist. Trauer bedeutet also nicht nur traurig sein.
Du kannst deine Trauer kennenlernen, um mit ihr zu kooperieren.
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Kann man von Trauerbewältigung sprechen?
Das Wort finde ich inzwischen schwierig. Bewältigen kann man einen Berg, dann bin ich oben und gehe wieder herunter. Trauer nehme ich mein Leben lang mit, aber Trauer verändert sich auch. Von diesem unbeschreiblichen Schmerz bis hin zu einer fast freundschaftlichen Trauer, wie eine dunkle, aber starke Liebe. Trauer bewältigen klingt so, als müsste man kämpfen und viel Kraft aufwenden. Passender finde ich den Begriff Kooperation: du kannst deine Trauer kennenlernen, um mit ihr zu kooperieren. So dass du weiterleben kannst, ohne dass die Trauer dein Leben diktiert.
Was hilft bei dieser Kooperation?
Es hilft erstmal zu wissen, in welchem Zustand man sich gerade befindet. Ist man gerade im Schock? Dann braucht man Schutz. Es geht vor allem darum, sich Zeit zu nehmen und den Körper zur Ruhe kommen zu lassen. Ist deine Verlusterfahrung ein paar Wochen her, und dein Umfeld hat schon mit deinem Schicksal abgeschlossen? Aber du sitzt im Bus und fängst plötzlich an zu weinen, weil du realisierst, dass ein geliebter Mensch verstorben ist? Auch in drei Monaten, einem halben Jahr und für den Rest deines Lebens noch? Wahrscheinlich brauchst du die Möglichkeit, deine Gefühle auszudrücken. Manchmal sind die Gefühle so vielschichtig verpackt, dass man es selbst nicht kann. Was dann hilft, ist ein kreativer Umgang mit den Gefühlsfacetten.
Wie sieht so eine kreative Arbeit aus?
Ich kenne zum Beispiel Menschen, die sich durch die Trauer gesungen haben. Statt einer Trauerbegleitung haben sie Gesangsunterricht genommen. Bei dieser sinnlichen und emotionalen Erfahrung konnten sie ihre Gefühle zulassen. Trauer kann wie ein Gefühlsstau sein, bei dem sich alles innerlich anstaut und Schmerzen verursacht. Wenn das wieder in den Fluss kommt, fühlt man sich besser, weil sich etwas bewegt. Und immer wenn sich etwas bewegt, ist das ein Zeichen für Leben.
Kann es sein, dass man nicht mehr aufhört zu weinen?
Nein, das Weinen hört von selbst auf, wenn man es zulässt. Und ist gleichzeitig so heilsam. Beim Weinen werden schmerzlindernde Botenstoffe im Körper freigesetzt. Das kann wie ein Wetter sein – mit unterschiedlichen Tränen: zum Beispiel leichte Tränen vor Rührung, wenn man sich an einen schönen Moment erinnert. Oder ein schmerzhafter, bitterer Heulkrampf. Oder Tränen, wenn man lacht und weint zugleich. Das Weinen ist ein großes Hilfsmittel bei der Trauer.
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Darf man in der Trauer auch lachen?
Das ist für viele ein großes Thema. Wenn man lacht, fühlt man sich schnell schlecht, weil man denkt: Eigentlich darf es mir noch nicht besser gehen. Zum Entwicklungsprozess in der Trauer gehört es dazu, sich zu erlauben, dass es einem schlecht geht, aber auch dass es einem wieder gut gehen darf. Besonders bei verwitweten Frauen ist das ein spezielles Thema, die schnell das Gefühl haben, verurteilt zu werden, wenn sie wieder lachen. Für mich ist das eine Aufgabe der Gesellschaft, eine Kultur zu schaffen, in der alles dazu gehört und Freude und Trauer nah beieinander stehen dürfen.
Trauer macht oft sprachlos. Warum ist es wichtig, darüber zu reden?
Um zu erkennen, dass man nicht alleine ist. Wenn man sich der Familie oder Freunden nicht anvertrauen möchte, kann es kann auch helfen, mit einem Trauerbegleiter zu sprechen, der nicht betroffen ist und einen freien Blick darauf hat. Dem man ganz ehrlich sagen kann, wie man sich fühlt, auch wenn es nicht politisch korrekt ist. Die meisten Leute sind erstaunt, dass man in einer Trauerberatung nicht nur traurig ist und weint. Die Beschäftigung mit der Trauer ist auch die Beschäftigung mit dem Leben. Weil du über das Leben und deine Erinnerungen an den geliebten Menschen sprichst. Es geht immer um das, was du erlebt hast und wie du das im Hier und Jetzt nutzen kannst.
Wenn jemand eine Geschichte über den Verstorbenen erzählt, die man selbst noch nicht kannte, kann diese Erinnerung zu einem richtigen Schatz werden.
Anemone Zeim, TrauerbegleiterinTweet
Welche Rolle spielen Erinnerung für die Trauer?
Erinnerungen sind wichtig, um zu verstehen, dass der andere wirklich da war und Spuren hinterlassen hat. Wenn jemand eine Geschichte über den Verstorbenen erzählt, die man selbst noch nicht kannte, kann diese Erinnerung zu einem richtigen Schatz werden. Das heißt, jede geteilte Erinnerung ist wie ein Geschenk. In unserer Erinnerungswerkstatt „Vergiss Mein Nie“ gestalten wir Erinnerungsstücke mit den Betroffenen, mit denen sie ihre inneren Gefühle nach außen tragen und das Unbegreifliche greifbar machen können.
Anemone Zeim ist Kommunikationsdesignerin und Trauerbegleiterin. Sie hat die Erinnerungswerkstatt "Vergiss Mein Nie" in Hamburg gegründet und gestaltet dort für und mit Trauernden Erinnerungsstücke und Trauergeschenke.