Unsere Autorin Katrin Wilkens wird genau so, wie sie früher nie sein wollte – nämlich wie ihre Mutter. Heute denkt sie aber ganz anders darüber.
Wenn ich als Kind wie meine Mutter sein wollte, ging das ganz einfach: Stöckelschuhe, Lippenstift und ein mit Kopfstimme intoniertes "Mein lieber Herr Gesangsverein, wie sieht denn das hier wieder aus?" – und schwupps war ich eine Bonsai-Variante meiner Mutter, die im Alltag selten Stöckelschuhe trug, oft Lippenstift und eigentlich nie "Mein lieber Herr Gesangsverein" sagte.
Als Jugendliche ging ich dann lieber zehn Meter hinter oder vor ihr, und noch zur Abiturfeier war sie eher ein notwendiges Übel als ein wichtiger Gast. Im Studium war ich dann die Antipode meiner Mutter, alles, was sie vertrat, und sie vertrat gern eine Menge, fand ich "sub omnia canonae", um sie mal mit ihren eigenen Worten zu schlagen, auf deutsch "unter aller Sau". Meine Mutter schrieb mir mal in meinen Studienort einen Brief: "Mein liebes Kind, denke daran: Wir sind nicht nur zum Spaß auf dieser Welt." Das weise "nur" in ihrem Satz überlas ich. Ich wollte es überlesen. Ich fand ihren Brief die größtmögliche calvinistische Provokation ans Leben und sprayte ihre Worte verzweifelt auf meine Kresse-Übertöpfe. Dabei sind schon Kresse Übertöpfe nicht nur Spaß. Meine Mutter und ich rückten also über die Opposition näher zusammen. Opposition ist ja auch Bindung – wenn auch nur negative.
Warum ist der Satz "Du siehst aus wie deine Mutter" schockierend wie eine Krampfader?
Heute habe ich selber Kinder, die mich fast ausschließlich als Chauffeur nutzen. Und als ich meine Jüngste einschulen ließ, mit meiner – inzwischen alten – Mutter im Schlepptau, sagte eine befreundete Nachbarin zu mir: "Du bist aber deiner Mutter ähnlich!" Dass sie nicht noch "Mein lieber Herr Gesangsverein" dahinter setzte, war eigentlich alles. Du. bist. ihr. aber. ähnlich. Ausrufezeichen. Warum versetzt uns Frauen das in einen ähnlichen Schockzustand, als sagte jemand: "Du hast da hinten am Knie aber eine sehr vorlaute Krampfader"? Weil es uns schlagartig alt macht? Weil es uns spießig macht? Weil wir ahnen, dass wir aus der Nummer, die die Theologen "Erbsünde" nennen, nicht so schnell herauskommen?
Meine Mutter ist eine unfassbar schlechte Verliererin (me too), dekoriert sich und alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist (das tue ich auch, wenn auch nur in Maßen), und wir beide sind wohl das, was man nicht unbedingt präverbal nennt: Wir können reden. Und tun's noch lieber. Wenn ich meine Schwestern fragen würde, käme noch ein Dutzend Dinge mehr zusammen, die ich von meiner Mutter geerbt, gelernt, geerbt-gelernt habe.
Warum berührt mich das so seltsam? Wenn mir jemand sagt: Du hast den Humor deines Vaters, seine Sportlichkeit, seine Waden – ist das Komplimenten-Botox für mich: Es strafft augenblicklich. Bei meiner Mutter bin ich zurückhaltend. Und damit nur eine von Millionen langweiliger Durchschnittsfrauen. Denn fast alle Frauen hadern mit dem Vererbungs-Domino ihrer Mütter, fast alle finden ihre Mütter nur halb bis dreiviertel perfekt. Und das hat nicht nur Tradition, das hat auch eine politische Dimension. Paula J. Caplan hat in ihrem Buch "Don't Blame Mother" beschrieben, dass Mütterschelte in einer männerzentrierten Gesellschaft Frauen klein und gefügig hält. In der westlichen Kultur ist das Bild der Mutter nicht umsonst eng mit dem Bild der Heiligen Mutter Gottes verbunden: perfekt, ideal, aufopferungsvoll, unermüdlich und schuppenfrei. Die Mutter in der Werbung gibt erst ihren Kindern einen Schokoriegel, bevor sie selber sich einen gönnen darf.
Mein Vater spielte regelmäßig eine Runde Patience am Ende des Wochenendes, am Ende der Ferien, wenn wir aus unserem Wochenendhäuschen zurückfuhren. Er spielte "Blau gegen Rot", während meine Mutter mit drei Kindern und vollem Gepäck "schon mal vorfuhr" – und auspackte, einräumte, Betten bezog sowie verschimmelte Reste aus dem Kühlschrank entsorgte. Heute haben wir das als seine Allein-sein-Schrulle abgespeichert; dass meine Mutter ausflippte, wenn wir ihre Bleistifte klauten, fanden wir dagegen nicht schrullig, sondern blöd.
Irgendwie sollen wir Müttertiere alle noch sein wie Thekla Carola Wied in "Ich heirate eine Familie". Immer mit frischer Ponyfrisur und der Kleinste bekommt noch einen Milchreis gekocht. Und wenn wir schon so nicht sind, dann sollen wenigstens unsere Mütter so sein. (So wie auch unsere Kinder eigentlich noch besser als wir sein sollen.) Sind sie natürlich nicht und deshalb werden sie auch so oft von uns nicht in den Recall geschickt.
"Du denkst noch mal an mich", hat meine Mutter immer apokalyptisch geantwortet, wenn ich mich grundsätzlich beschwerte, über ihre laute Art, sich mit anderen zu unterhalten, über ihren Ehrgeiz, über ihren Konsumwahnsinn zu Weihnachten (wir hatten ein Extra-DDR Päckchen- Packzimmer). Heute nennt mich mein Mann "Geschenke-Nazi", weil ich schon im Oktober fertig bin, und wenn ich ihn fragte, ob er mich für ehrgeizig hält, würde er die nächsten fünf Minuten vor Lachen nicht antworten können. Als meine Söhne vorhin aus der Buchstabensuppe sieben "K" herausklaubten, musste ich acht haben: acht, muss doch machbar sein, sonst: schlechter Verlierer, siehe oben.
Kritisiere ich als Tochter meine Mutter, lege ich gleichzeitig die eigene Latte hoch für meine Kinder, meine Tochter: Wenn die eigene Mutter Macken haben darf, darf auch ich mir Fehlbarkeiten leisten. Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet der Zeitpunkt, an dem Frauen Kinder bekommen, auch der ist, an dem sie gnädiger mit ihren Müttern werden.
Nur wenn wir Müttern Macken zugestehen, können wir uns auch welche leisten
Marianne Krüll schreibt in ihrem Buch "Die Mutter in mir" sogar darüber, dass wir die Mutter neu zur Welt bringen müssen, um ihr die Würde zurückzugeben. Würde zurückgeben bedeutet, nicht das Marienbild zu übertragen, sondern die eigene Mutter das sein zu lassen, was sie ist: Ein Mensch mit Fehlern, der einen Mensch mit Fehlern gebiert, großzieht, entlässt, so dass auch er Menschen mit Fehlern auf die Welt bringt.
Irgendwo habe ich gelesen – aber Mist? Wo? (Vergesslichkeit: auch geerbt.) Ich habe also gelesen, dass das schönste Kompliment, das Töchter ihren Müttern machen können, ist, wenn sie dasselbe Leben wie ihre Mütter leben. Voilà Mama: drei Kinder, gute Ehe, schräger Humor.
Von all den anderen Dingen, die ich von meiner Mutter gelernt habe, vom Klöße-Zubereiten bis zur Leselust, vom Spaß am Schmuck bis zu "Man kehrt immer von sich weg, nie zu sich hin", habe ich ihr ein Buch gemacht. Der Titel: "Die Saat ist aufgegangen". Es war das erste Mal, dass ich meine Mutter bei einem Geschenk von mir vor Rührung heulen sah.
Katrin Wilkens' Erziehung bestand im Grunde aus Sprüchen: "Das ist nun mal die normative Kraft des Faktischen" (verschütteter Kakao), "Kopf hoch, Brust raus, Augen Vordermann ins Genick" (Angst vor Mathe), "Schnauze, weiter schwimmen, in Amerika wird gehalten" (Sonntags-Spaziergänge).