Gendermedizin: Warum Patientinnen keine Patienten sind und was Frauen für ihre Gesundheit tun können, erklärt Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer im Interview.
Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Behandlung brauchen
Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Rettungssanitäter*innen – sie alle zählen zu den aktuellen Heldinnen und Helden in Zeiten von Corona. Menschen, die sich für die Gesundheit anderer einsetzen und Krankheiten bekämpfen. Doch nicht jede*r Patient*in ist gleich. Die moderne und junge Disziplin der Gendermedizin legt den Fokus darauf, wie sich Männer und Frauen unterscheiden: „Patientinnen sind keine Patienten,“ schreiben Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek und Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer in ihrem Buch über Gendermedizin. Warum Frauen eine andere Medizin brauchen, erklärt die Wissenschaftsjournalistin und ehemalige Ärztin, Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer, im EMOTION-Interview.
EMOTION: Warum brauchen wir eine Gesundheitsrevolution?
Dr. med. Schmid-Altringer: Damit die Medizin Frauen und Männer angemessen und wirklich gut versorgt, muss auf allen Seiten etwas passieren. Ärzt*innen müssen Gendermedizin in ihre Arbeit integrieren, aber auch Patient*innen sollten etwas tun. Wir verlassen uns darauf, dass die Medizin uns gesund macht, also Psychotherapie, Logopädie oder eben Hausärzt*innen. Wir trauen im Grunde genommen unserer eigenen inneren Ärztin oder unserem inneren Arzt zu wenig zu. Es fällt uns oft sehr schwer, eigene Entscheidungen für unsere Gesundheit zu treffen, denn darin sind wir zu wenig geschult. Die Gendermedizin hat das Potenzial einer Gesundheitsrevolution und der erste jetzt machbare Schritt für Frauen - und auch für Männer - besteht darin, den inneren Dialog mit sich selbst zu ändern.
Welchen Beitrag will die Gendermedizin leisten?
Die Gendermedizin ist lösungsorientiert und gibt uns Möglichkeiten an die Hand zu handeln. Gender setzt sich immer zusammen aus bio-psycho-sozialen Faktoren. Drei Faktoren, die zwar künstlich getrennt werden, sich aber eigentlich wechselseitig beeinflussen und zusammengehören. Dass sich Männer und Frauen unterscheiden, liegt auf der Hand. Die Gendermedizin gibt einen Hinweis darauf, genauer hinzuschauen und vermittelt ein Wissen über diese Unterschiede, das dann aber im Einzelfall geprüft werden muss. Denn Frau ist nicht gleich Frau und auch Männer sind nicht alle gleich.
Wodurch entstehen diese Unterschiede?
Zum Beispiel, weil die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern anders sind und auch ihre Körper. Frauen haben durchschnittlich einen höheren Fettanteil als Männer und einen geringeren Muskelanteil. Außerdem spielen Hormone eine wichtige Rolle, die vor allem bei Frauen permanent wechseln. Die führt dazu, dass es ständige Interaktionen gibt. Zum Beispiel mit dem Blutzucker. Je nach Zyklusphase macht es einen großen Unterschied, wie hoch oder wie tief er abfällt und dies verursacht spürbare Änderungen in unserer Wachheit und Konzentrationsfähigkeit. Gleiches gilt für die Schmerzwahrnehmung, auch sie ist hormonell beeinflusst. Wir haben je nach Zyklusphase unterschiedliche Schmerzwahrnehmungen.
Medikamente können bei Frauen anders wirken als bei Männern. Inwiefern?
Wir nehmen permanent Medikamente zu uns, die in der Forschung überwiegend an Männern bzw. männlichen Mäusen getestet wurden. Bei weiblichen Mäusen wird nur ungerne nicht getestet, weil der Zyklus einen Einfluss auf die Ergebnisse haben könnte. Das führt dazu, dass Frauen Medikamente erhalten, die nicht an Frauen getestet wurden. Bei manchen Medikamenten, wie bestimmten Schlafmitteln, ist dann die Dosierung für Frauen zu hoch angesetzt. Das kann zum Beispiel am nächsten Morgen im Straßenverkehr gefährlich sein. Frauen haben aber außerdem andere Kapazitäten im Abbau von Medikamenten. Ganz entscheidend finde ich, dass wir uns klar machen: die Verhütungspille stellt einen großen Faktor dar, der Männer und Frauen unterscheidet. Bei Frauen kann sich das u.a. auf den Abbau von Medikamenten in der Leber auswirken und dies müsste dringend erforscht werden.
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Menstruation, Geburtsschmerz, Wechseljahre – bedeutet Frausein gleich Schmerzen?
Ich glaube, Frauenleben ist mit Schmerz verbunden. Aber ehrlich gesagt Männerleben auch, nur teilweise etwas später. Das Leben bringt Schmerzen mit sich, da kommen wir alle gar nicht drum herum, sowohl psychische als auch körperliche. Frauen müssen sich damit aber viel früher auseinandersetzen als Männer. Welcher Junge hat mit 15 Jahren schon mit monatlich wiederkehrenden Schmerzen zu kämpfen oder geht mit 17 Jahren zum ersten Mal zum Männerarzt, wie wir Frauen zur Gynäkologin?! Durch diese Sozialisierungen werden wir schneller an die Medizin angekoppelt, haben aber die Chance einen guten Umgang mit Schmerzen zu lernen. Es gibt eine tolle Szene aus der britischen Serie Fleabag, in der eine Frau einer anderen erklärt: „That’s why we don’t make war” – Wir Frauen haben ohnehin schon mit Schmerz zu tun und brauchen das nicht nach außen zu verlagern mit Testosteron-gesteuerten Verhaltensweisen. Das klingt provokant, ist aber auch amüsant und irgendwie richtig.
Viele Frauen schämen sich für ihre Weiblichkeit und die Schmerzen. Wie können wir damit besser umgehen?
Ich glaube, dass Frauen ganz oft dazu neigen, sich für Dinge, die sie erleben zu schämen. Wir alle kennen das unangenehme Gefühl, wenn wir in einem Meeting sitzen, während wir unsere Tage haben, und alles weh tut. Eher schämen wir uns dann für uns selbst, anstatt uns zu fragen, was uns der Schmerz sagen will. Frauen brauchen einen anderen inneren Dialog, als sich permanent damit zu konfrontiert, sich zu schämen, dass man nicht richtig ist. Wenn wir uns den Schmerz anschauen, ist Schmerz ein Hinweis, der zeigt: ‚hier ist etwas nicht in Ordnung.‘ Die Ursachen können vielfältig sein, vielleicht fordert er uns auf, eine Pause zu machen und uns auszuruhen, aber vielleicht ist der Schmerz ein Hinweis auf eine Endometriose. Dies gilt es zu klären und nicht den Schmerz einfach auszuschalten. Schmerz gehört zu unserem Leben dazu und wir sollten lernen, anders damit umzugehen.
Was kann jede einzelne Frau für ihre Gesundheit tun?
Wir können nicht darauf warten, bis sich die Strukturen verändern. Umso wichtiger ist es, dass wir Frauen ermächtigen selbst aktiv zu werden. Durch das Wissen der Gendermedizin können sie beim nächsten Arztbesuch sagen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Wenn Frauen Medikamente bekommen, die ihnen zu hoch dosiert erscheinen, können sie zum Beispiel nochmal nachfragen. Das ist zwar unbequem, aber besser als Nebenwirkungen. Ein ganz wichtiger Schritt in der Prävention ist es auch, den Blick auf sich selbst nicht nur von außen zu richten. Statt zu denken: ‚Bin ich schön?‘ ‚Bin ich sexy?‘ ‚Bin ich erfolgreich?‘ die Frage nach innen zu stellen: ‚Fühle ich mich schön?‘ ‚Geht es mir innerlich gut?‘. Es geht darum, dass die Stimmigkeit mit uns selbst von innen kommt und nicht ständig von außen. Wenn wir uns die Natur anschauen und unseren Körper, erkennen wir, was eigentlich gesund wäre: Die Jahreszeiten und alle Gefäße in unserem Körper sind zyklisch. Es geht immer um Anspannung und Entspannung. Aufblühen und vergehen. Das lehrt der Zyklus, wenn wir ihn lassen. Entspanntes Frausein findet aber nur mit dem eigenen Körper statt, nicht gegen ihn.
Pressemitteilung zum Coronavirus
"Der Coronavirus COVID 19 (COrona VIrus Disease) greift in ein System ein, in dem Geschlechterunterschiede bekannt sind. Möglicherweise gibt es Schutzfaktoren, die dringend untersucht werden sollten. Solange können Frauen nicht warten, die Gendermedizin kann aufgrund aktueller Forschungsergebnisse Folgendes empfehlen: Für beide Geschlechter ist es in Zeiten der Corona-Krise wichtig und gesund, sich aktiv vor einer Ansteckung zu schützen und gleichzeitig alles zu tun, um den Stresspegel zu senken. Erst die Kombination beider Maßnahmen ist wirklich effektiv und schützend. Speziell für Frauen gilt aber der Rat, der Panik jeden Tag etwas entgegen zu setzen und auch den Alltagsstress einer außergewöhnlichen Doppel- und Dreifachbelastung während der Krise bewusst zu minimieren." - Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek und Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer.
Aktuelle Empfehlungen für Frauen:
Was könnten Frauen jetzt tun, um sich zu stärken
- Online-Portale oder Angebote auf YouTube zum Beispiel für Yoga und Fitness nutzen
- Digitale Entspannungsmedien von Autogenem Training, progressiver Muskelrelaxation, Meditation, etc. bestellen und täglich durchführen
Allgemein immunstärkende Maßnahmen sind:
- früh schlafen gehen
- gesund Kochen
- das Nachrichten-Input über die Corona-Krise auf 1-2 x täglich reduzieren
Dr. med. Stefanie Schmid-Altringer ist seit 1999 als freiberufliche Wissenschaftsjournalistin, Expertin und Buchautorin tätig. Mit dem Themenschwerpunkt Frauengesundheit produzierte sie zahlreiche TV-Dokumentationen und Bücher. Seit 2011 entwickelt sie partizipative Gesundheitsformate zu Schwangerschaft und Geburt wie die 'Erzählcafé-Aktion'.
Frauen und Männer erkranken und genesen anders. Selbst bei gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer identisch. Die renommierten Autorinnen erklären anschaulich, warum wir eine geschlechtersensible Medizin brauchen (Scorpio Verlag, 22€).