Autismus und Isolation: Social Distancing in der Coronakrise kann für autistischen Menschen eine Erleichterung sein, stellt sie aber auch vor Herausforderungen.
Autismus und Isolation: Wie autistische Menschen die Krise erleben
Autist*innen sagt man nach, ihnen würde die aktuelle Situation entgegenkommen. Dieses Stereotyp bedienen vor allem Menschen, die sich nicht in Autist*innen hineinversetzen können – also nahezu alle. Wie autistische Menschen die Krise erleben und wie sie mit der sozialen Isolation umgehen, beschreibt die junge Autorin und Autistin, Marlies Hübner.
Auch autistische Menschen haben soziale Bedürfnisse – sie wollen und brauchen Kontakt zur Familie und dem Freundeskreis.
Marlies HübnerTweet
Social Distancing kann eine Erleichterung sein
Natürlich gibt es auch autistische Personen, die mit dem aktuellen Zustand gut zurechtkommen. Aber die Problematik liegt, wie so oft, im Detail. Auch mir erspart Social Distancing überfordernden physischen Kontakt wie Händeschütteln oder das Nichteinhalten des persönlichen Raums. Auch für mich ist das Leben deutlich barriereärmer geworden, wenn Rezepte elektronisch an Apotheken versendet werden, ich Arzttermine via Video Call wahrnehmen und plötzlich nahezu alles auch digital erledigen kann. All das ist eine große Erleichterung.
Autistische Menschen haben soziale Bedürfnisse
Was jedoch oft nicht bedacht wird: Auch autistische Menschen haben soziale Bedürfnisse – sie wollen und brauchen Kontakt zur Familie und dem Freundeskreis. Wir haben ein großes Bedürfnis nach Sicherheit, Struktur und Routinen, nach Information und Planbarkeit. All das ist nun nicht mehr gegeben. Mit den Ausgangsbeschränkungen brach für viele von uns ein großer Teil der Alltagsstruktur weg, das lähmt und ängstigt.
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Kontrollverlust und Unsicherheit in der Krise
Es braucht Zeit und viel Kraft, sich eine neue Struktur zu bauen, die den Tagen ein Gerüst gibt. Das Wissen, dass die nächsten Änderungen nur wenige Wochen entfernt liegen könnten, macht es nicht einfacher. Wie wird unser Alltag in zwei, vier oder zehn Wochen aussehen? Bislang musste ich mir diese Frage nicht stellen. Ich konnte alles stets kontrollieren und selbst beeinflussen. Die Fremdbestimmung, die wir nun erleben, weckt Hilflosigkeit.
Menschen mit Autismus brauchen Pläne und Sicherheit
Die aktuelle Situation und vor allem die Unsicherheit über das, was nach den Regierungsmaßnahmen geschehen wird, ist etwas, was sich kaum verdrängen lässt. Es begleitet mich wie ein Schatten durch den Tag. Niemand kann sagen, ob und wie wir und unsere Gesellschaft sich durch diese Pandemie verändern werden. Wir wissen nicht, was aus unseren Jobs wird, können keine fixen Zukunftspläne machen. Für einen Menschen wie mich, der Pläne und Sicherheiten braucht, um den Alltag gut bewältigen zu können, ist es sehr herausfordernd. Sicher ist nur: Es wird irgendwie weitergehen und wir werden die Menschen um uns herum mehr denn je brauchen, um die kommenden Veränderungen gut zu überstehen.
Vielleicht beginnt nun ein gesellschaftlicher Umbruch hin zu einer gerechteren, solidarischen Welt.
Marlies HübnerTweet
Wunsch nach einer solidarischen, inklusiven Gesellschaft
Trotz allem versuche ich mich in dieser “neuen” Realität, mit all ihren Herausforderungen und Veränderungen, an positiven Gedanken festzuhalten: Vielleicht beginnt nun ein gesellschaftlicher Umbruch hin zu einer gerechteren, solidarischen Welt, in der wir marginalisierte Personen anerkennen und in die gesellschaftliche Mitte holen. Ich wünsche mir, dass vieles, was für mich und andere Menschen mit Behinderungen zur Barrierefreiheit beiträgt, in den neuen Alltag übernommen wird. Digitalisierung ist ein wichtiger Schritt hin zu einer inklusiven Gesellschaft, Solidarität das, was uns zu einem guten, menschlichen Miteinander verhilft.
In ihrem Buch „Verstörungstheorien – Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne“ beschreibt die Autorin Marlies Hübner autobiografisch über den Weg zu ihrem Selbst. Mehr auf ihrem Blog Robot in a Box.
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