Ghosting: Autorin Tina Soliman schreibt darüber, was eine solche Trennung mit unserer Psyche macht und was das für unser Zusammenleben bedeutet.
Ghosting - plötzliches Verschwinden aus Beziehungen
Schon seit 15 Jahren beschäftige ich mich beruflich mit dem Thema "Funkstille", das heutzutage "Ghosting" genannt wird: also das plötzliche Verschwinden ohne Erklärung aus gerade noch nahen Beziehungen. Ghosting ist mit dem Aufkommen der Dating- und Partnerschaftsvermittlungsplattformen zum meistgenutzten Tool für das Beenden von Beziehungen geworden. Es beschreibt das Phänomen, dass sich Menschen, mit denen man sich verabredet, verbindet, befreundet oder gar verpartnert, von einem Moment zum anderen in Luft aufzulösen scheinen.
Nachrichten bleiben plötzlich unbeantwortet, für die Zurückbleibenden wirkt es so, als hätten sie es die ganze Zeit mit einem Hologramm zu tun gehabt – einem Gespenst eben. Diese komplette Funkstille ist vor allem eine Konfliktvermeidungstaktik, eine Bewältigungsstrategie von Ängsten. Meist schweigt man, um entrüstete Reaktionen zu vermeiden (weil Streit oder Auseinandersetzungen oft als Bedrohung empfunden werden, zumindest aber als nervig und zeitraubend). Andere schweigen, weil sie sich verletzt fühlen oder aus Scham. Und dann gibt es noch diejenigen, die schweigen, um zu strafen – oder um zu manipulieren.
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Ghosting - der Kontaktabbruch hat das Potenzial zur Zerstörung
Meiner Erkenntnis nach geht Ghosting jedenfalls immer mit tiefen Zweifeln, Kummer und Trauer einher. Ein plötzlicher Kontaktabbruch ohne Erklärung hat das Potenzial zur Zerstörung. Wenn ich jemanden so zurücklasse, der oder die mir zuvor nahe war, greife ich seine oder ihre Grundbedürfnisse an, etwa das Bedürfnis nach Bindung und Orientierung. Schließlich wollen wir alle wissen, woran wir sind, und möchten deshalb gerne auch den Ausgang einer Beziehung mitbestimmen. Weil Ghosting die Substanz menschlichen Miteinanders massiv angreift, hat es nicht nur für alle Betroffenen nachhaltige Folgen, sondern für die ganze Gesellschaft.
Heute ist die Frage, wie wir in und aus Beziehungen gehen, das Hauptthema auf Dating-Plattformen: enge Beziehungen und Nähe, die ja verletzbar machen könnten, werden geradezu gefürchtet. Gleichzeitig gilt Ghosting als die absolute Beziehungkatastrophe. Das Schweigen besagt: "Du bist nicht da" oder "Ich bin nie da gewesen". Alles eine Täuschung. Zurück bleiben tief verletzte Menschen, die sich immer seltener in Beziehungen trauen. Ihre Wahrnehmung ist getrübt. Haben sie sich alles nur eingebildet? Haben sie etwas falsch gemacht? Waren sie nicht liebenswert genug? Die permanente Anwesenheit der Abwesenheit quält. Für Menschen, die geghostet werden, ist es hochgradig problematisch, wenn der andere sich in Luft aufzulösen scheint: Es ist fast ein Substanzverlust.
Wir übertragen unsere Wegwerfmentalität auf Menschen.
Tina Soliman über GhostingTweet
Ein Beispiel: Lauras Leben begann mit dem Verschwinden ihres Vaters, der schon kurz vor ihrer Geburt die Mutter verließ. Als Laura ein Teenager war, verschwand auch die Mutter. Lauras Leben bestand also schon früh aus Verlusten, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ziehen. Zwei langjährige und intensive Beziehungen zu Männern endeten ebenfalls mit dem plötzlichen Verschwinden des Partners. Heute ist Lauras Leben von Gespenstern aus der Vergangenheit bevölkert. Sie wird wohl nur mit großen Schwierigkeiten noch irgendeine Beziehungen wagen.
Ghosting ruft ernsthafte psychische Störungen hervor
Der Neurologe und Psychologe Michael Linden spricht hier von einer "posttraumatischen Verbitterungsstörung". Das ist eine reaktive psychische Störung in Folge des Erlebens von Ungerechtigkeit, Herabwürdigung oder Vertrauensbruch, gekennzeichnet durch nagende Verbitterungsgefühle, Aggressionsfantasien, schlechte Stimmung, Rückzug aus Sozialbeziehungen oder Einengung des Lebens. Je häufiger solche Menschen verlassen werden, umso tiefer wird ihre Wunde.
Abbrüche und Risse gehören zum Leben. Doch das plötzliche Verlassenwerden ist ein Angriff auf die Identität, Ungeklärtes beschäftigt uns weitaus mehr als begründete Entscheidungen. Schweigen war zwar schon immer eine effektive, wenn auch brutale Form, um zu zeigen, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt. Aber in den letzten Jahren hat sich etwas Entscheidendes verändert: Dieser Umgang miteinander ist vom schambehafteten Unfall zur achselzuckend hingenommenen Normalität geworden.
Online-Dating: ruft eine Wegwerfmentalität hervor
Es begann online: Dort löschen wir im Prinzip ständig Menschen, wenn wir auf Datingplattformen Profile von links nach rechts wischen. Ghosting ist Ausdruck einer fortgeschrittenen Verdinglichung: Beim Online-Dating bietet man sich an wie in einem virtuellen Supermarkt. Und verabschiedet man sich von einem Produkt? Nein. Ich verabschiede mich nicht von einer Marmelade. Heute schmeckt sie mir, morgen eben nicht. Heute gefällst du mir, morgen nicht. Ich benutze dich, genieße dich, dann werfe ich dich weg. In einer Welt, in der Produkte und Dienstleistungen rund um die Uhr verfügbar sind, überträgt sich diese Wegwerfmentalität offenbar auch auf den Menschen.
Wäre es da nicht Aufgabe der Plattformbetreiber, dem entgegenzuwirken und deutlich zu machen, dass hinter je- dem Profil ein Mensch steht? Allerdings machen wir uns ja freiwillig zum Produkt, indem wir uns ins virtuelle Regal stellen, das dank der Digitalisierung gut gefüllt ist. Die anderen müssen nur zugreifen. Wer nicht passt, geht eben retour, denn warum soll nicht auch in Beziehungen das Bestellprinzip gelten?
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Vorsichtiges Kennenlernen: Verschwindet durch Online-Dating
Viele Nutzer preisen die Freiheit der Auswahl, wissen aber nicht, wen sie wählen sollen. Sie lassen einen Laufsteg der Möglichkeiten an sich vorbeiziehen und übersehen dabei, wer eine hätte sein können. Sie streicheln die Oberfläche ihrer Handys häufiger als die Haut eines anderen Menschen. Das algorithmusgenerierte Kennenlernen erfasst nicht mehr, was Annäherung bedeutet. Datingportale haben die Begegnung, die einst absichtslos geschah, in ihr Programm eingespeist, berechnet und beschleunigt. Das lässt die unerwartete Begegnung ebenso verschwinden wie das Flirten oder das vorsichtige Kennenlernen. Hält eine Begegnung nicht, was sie – oder der Algorithmus – versprach, wird sie beendet, bevor sie eine Chance hat, real zu werden.
Ghosting ist nicht zufällig in Zeiten größter Kommunikationsmöglichkeiten entstanden, und es schmerzt umso mehr, weil es so viele Möglichkeiten gibt, online zu sehen, wie der "Geist" weiter mit anderen Menschen interagiert, den Verlassenen jedoch ignoriert. Normen wie Verbindlichkeit, Beständigkeit und zwischenmenschlicher Respekt sind aber nötig,um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn sich Unbeständigkeit als neue Norm des digitalen Miteinanders durchsetzt, dürften die Folgen für das soziale Miteinander massiv sein.
Modernes Dating: Wie konfliktfähig sind wir noch?
Die Datingplattformen, die sicher für manche die einzige Möglichkeit sind, mit potenziellen Partner*innen in Kontakt zu kommen, erleichtern gleichzeitig den unverbindlichen und verantwortungslosen Umgang miteinander. Was passiert aber, wenn wir nicht mehr direkt in Konkurrenz zu anderen treten und uns der Konfrontation nicht mehr aussetzen? Wenn wir verschwinden, sobald es komplizierter wird? Wie konfliktfähig sind wir dann noch?
Tina Soliman ist TV-Journalistin (u.a. "Panorama") und hat drei Bücher zum Thema verfasst: "Funkstille", "Der Sturm vor der Stille" und "Ghosting".
Das zwischenmenschliche Agieren scheint immer schwieriger zu werden. Obwohl wir alle wissen, dass wir ohne Beziehungen nicht leben können, weichen wir allem aus: der Nähe, dem Konflikt, der Partnerschaft. Dabei sind tiefer gehende Beziehungen der wesentliche Motor für unsere persönliche Entwicklung. Wir brauchen sie, um unsere Ängste zu regulieren. Das abrupte Ausbleiben der Kommunikation ist der unüberhörbare Sound einer Ära der Kommunikationsexplosion. Doch auf die Frage: "Was ist passiert?", gibt es keine Antwort. Vielleicht wäre die treffendere aber auch: "Was ist nicht passiert?"
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