Auf Social Media macht sich ein neuer Dating-Trend breit: "Orbiting" heißt das Phänomen. Und es ist die kleine fiese Schwester vom Ghosting.
Orbiting: Das neue Ghosting?
Helge Schneider, 64, hat neulich mal gesagt: "Instagram, das ist Exhibitionismus, keine Kultur. Wenn man auf der Bühne ist, dann ist da ein Publikum und die können dich nicht nehmen und immer wieder anschauen oder verschicken oder dir schreiben oder so." Helge ist sicherlich einer, der noch – ganz oldschool – zum Telefonhörer (mit Drehscheibe) greift, wenn er jemandem etwas zu sagen hat. Egal, wie weh es tut. Diese Geradlinigkeit, dieser Anstand und dieser Mut sind im Jahr 2022 leider nicht mehr selbstverständlich. Seit die Sozialen Medien unseren Alltag dominieren, poppen alle naselang neue, verstörende Netz-Phänomene auf. Danke Digitalisierung! Nach "Ghosting" raubt uns neuerdings "Orbiting" den allerletzten Nerv: Leute bewegen sich in deiner Umlaufbahn, deinem Orbit, ohne dir jemals wirklich nah zu kommen. Ein (Dating-)Phänomen aus der Reihe "Dinge, die die Welt nicht braucht" (aber verdient hat, würde Helge Schneider sagen).
Orbiting erhält Beziehungen künstlich am Leben
Stell dir vor, eine Person – egal ob Partner:in, vielversprechender Flirt, Kolleg:in oder langjährige:r Freund:in – hat keinen Kontakt im echten Leben mehr mit dir, aber liket trotzdem weiterhin ALLES, was du in den Sozialen Medien postest. Das ist ziemlich verwirrend. Ich selbst hatte mal ein fast schon legendär verunglücktes Date mit einem Mann, der mir eine halbe Stunde lang erläuterte, warum er Frauen über 30 "anstrengend" fände und ich im Speziellen "eher nicht so" sein Typ sei. Logisch, dass ich flugs die Flucht ergriff und mich freute, den Typen niemals wiedersehen zu müssen.
Tags drauf dann der Schock: Mein Horrordate hatte alle meine Accounts – aus beruflichen Gründen betreibe ich verschiedene Profile in unterschiedlichen Netzwerken – mit Likes, Herzchen-Emojis und zuckersüßen Kommentaren à la „Hey, beautiful! Wünsche dir einen tollen Tag <3“ überhäuft. Und ich nur so: Hä? Sogar im Businessnetzwerk Xing hatte er mein Job-Profil besucht. Außerdem interessierte er sich für praktisch sämtliche Veranstaltungen, an denen ich (laut Facebook) in den nächsten Wochen teilnehmen wollte.
Orbiting ist die miese kleine Schwester von „Lass uns Freunde bleiben“
Stella BrikeyTweet
Eine Freundin erlebte Ähnliches. Ein Mann, in den sie sehr verliebt war, ghostete sie nach zwei gemeinsamen Monaten, was sie zutiefst verletzte und ganz schön aus der Bahn warf. Gerade als es ihr wieder besser ging, stellte sie fest, dass ihr Ex sämtliche ihrer Fotos bei Facebook geliket hatte – und dafür ihre Timeline bis 2013 runterscrollte, was sehr lange gedauert haben muss.
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Meine Freundin war aufgewühlt und zerbrach sich den Kopf darüber, was all das wohl zu bedeuten habe (Spoiler: in der Regel nicht besonders viel). Und genau das ist es auch, was die Orbiter:innen zu einer echten Gefahr für unsere Psyche machen: Sie lassen uns nicht zur Ruhe kommen und reißen nicht selten frisch verheilte Wunden wieder auf. Man fragt sich, um es mal mit den Worten von Herbert Grönemeyer zu sagen: „Was soll das, womit hab ich das verdient?“ Hier ein paar Deutungsversuche:
Erklärung Nr. 1: Orbiting aus Unsicherheit
Orbiter:innen leiden unter einer inneren Zerrissenheit. Sie haben Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Was, wenn der oder die "Richtige" doch schon dabei war? Deshalb lassen sie ihre Ex-Flirts sicherheitshalber lauwarm auf Sparflamme weiterköcheln. "Sie stehen mit einem Fuß in der Tür, mit dem anderen draußen", sagt die Dating-Expertin Persia Lawson. "Auf diese Weise können sie signalisieren, dass sie noch da sind, ohne dass sie eine Beziehung eingehen müssen. Dabei halten sie die Kommunikationskanäle einen Spaltbreit offen, falls ihnen mal wieder danach ist, das Ganze erneut anzufachen."
Erklärung Nr. 2: Orbiting aus Einsamkeit
Orbiting bildet in gewisser Weise den Gegentrend zur Wisch-und-Weg-Gesellschaft, die in den letzten Jahren durch Tinder und Co. entstanden ist. Verflossene werden nicht mehr gelöscht – sondern wie ein Tamagotchi weiter „gepflegt“. Orbiting ist die fiese kleine Schwester von „Lass uns Freunde bleiben“, vor allem in der Generation Beziehungsunfähig. Orbiter:innen fühlen sich besser, wenn sie ab und zu mal nachschauen können, wie es einem (ohne sie) so geht. Vielleicht brauchen sie auch einfach dringend Follower:innen.
Erklärung Nr. 3: Orbiter:innen sind narzisstisch
Mit ihren Likes wollen sich die Orbiter:innen immer wieder brutal zurück ins Gedächtnis ihrer Ex-Flirts rufen. Das verleiht ihnen ein Gefühl von Macht.
Erklärung Nr. 4: Orbiting gleicht Blödheit
Die Orbiter:innen wissen gar nicht, dass andere sehen können, wenn sie deren Instagram-Storys oder Xing-Profile anschauen. Kleine Warnung für Orbiter:innen: Facebook schlägt immer die Leute als Freunde vor, die sich in letzter Zeit mal das eigene Profil angesehen haben. Wir kommen euch also auf die Spur, ihr Stalker:innen.
Schluss mit diesem unsinnigen Trend auf Social Media!
Aber ist der Grund, weshalb dich jemand umkreist, nicht eigentlich auch egal? Orbiting ist in jedem Fall ein riesengroßer Mindfuck – und verlangt harte Sanktionen. Die Übeltäter:innen haben unsere Aufmerksamkeit nicht verdient und sollten daher umgehend auf allen Kanälen gelöscht, blockiert und gesperrt werden. Sonst geht’s irgendwann ziemlich asozial zu in den Sozialen Medien.
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