Ein halbes Jahr nichts voneinander gehört, aber beim Wiedersehen ist alles so wie „früher“: Inaktive Freundschaften sind wertvoller für unsere mentale Gesundheit, als wir glauben.
Jede:r hat sie, diese alte Schulfreundschaft, die sich durch halbjährliche "Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet hab. Wie geht’s dir?"-Nachrichten aufrecht erhält. Wer sich schon immer mal gefragt hat, ob solche Freundschaften ohne aktiven Kontakt überhaupt funktionieren können: Ja, das können sie! Tatsächlich können wir psychisch sogar von ihnen profitieren.
Inaktive Freundschaften profitieren von gemeinsamen Erinnerungen und Erfahrungen
Meist läuft das ja so ab: Man versucht, sich in einem zeitlich sehr variierbaren Rhythmus über Textnachrichten gegenseitig auf den neuesten Stand im eigenen Leben zu bringen – über den neuen Job, den letzten Urlaub oder die neue Liebe. Meist bleibt es dabei dann auch, denn viele Themen fallen bereits weg, wenn man zum Beispiel durch eine große räumliche Distanz keine gemeinsamen Berührungspunkte mehr im Alltag hat. Da beschleicht einen dann schon manchmal das Gefühl, ob es sich noch lohnt, an dieser Freundschaft festzuhalten. Aber gerade dann, wenn man sich nach längerer Zeit mal wieder sieht oder telefoniert, ist alles wieder so wie "früher": Es fühlt sich an, als hätte man sich gerade gestern erst gesehen, knüpft an alte Zeiten an und schwelgt gemeinsam in Erinnerungen: schließlich kennt man kennt ja dieselben Lehrer:innen und Schulkamerad:innen, Eltern, Geschwister.
Und das ist genau der Punkt, in dem sich langlebige Freundschaften von neuen Freundschaften unterscheiden: Der Reichtum an gemeinsamen Erfahrungen. Louise Tyler, Mitglied der britischen Gesellschaft für Beratung und Psychotherapie meinte dazu im Guardian: "Alte Freunde haben sich gegenseitig aufwachsen sehen; sie verstehen deine Geschichte, deine Herausforderungen, deinen familiären Hintergrund, deine Beziehungsgeschichte". Außerdem sei Nostalgie dafür bekannt, das Gefühl der sozialen Verbundenheit zu verstärken. Heißt also: Wenn man es schafft, sich wirklich mal wieder persönlich zu treffen, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass man die gemeinsame Zeit dann auch genießt. Und dann spielt es auch gar keine Rolle mehr, wie lange die Kontaktpause war.
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Es ist normal, dass Freundschaften einschlafen
Inaktive Freundschaften können uns also, wenn wir sie nicht komplett einschlafen lassen, richtig gut tun – denn sie bieten uns von Zeit zu Zeit auch die Möglichkeit, noch einmal die schönen Zeiten der Vergangenheit aufleben zu lassen. Die Soziologin Julia Hahmann von der Universität Vechta kam in einem Forschungsprojekt sogar zu der Schlussfolgerung, dass die Freundschaften, die wir seit unserer Kindheit haben, am längsten bestehen. Und dass es sogar üblich sei, dass Freundschaften mal einschlafen. Vielleicht erkennt man also ja sogar eine wirklich gute Freundschaft an ihrer Widerstandsfähigkeit – wenn man selbst nach einer monatelangen Ruhephase wieder nahtlos aneinander anknüpfen kann, dann ist zeugt das wohl auch von einer engen, emotionalen Bindung.
Natürlich kann es auch genauso gut passieren, dass man sich schlichtweg auseinander gelebt hat, dass es außer den gemeinsamen Erinnerungen keine Verbindung mehr gibt: weil man sich etwa in unterschiedlichen Lebensphasen befindet (die eine hat geheiratet, die andere lebt ihr Single-Leben aus). Doch selbst das muss ja nicht ausschließen, dass es zu einem späteren Zeitpunkt im Leben wieder Anknüpfungspunkte gibt. "Im höheren Alter, wenn die Kinder aus dem Haus sind, gleicht sich oft die Lebenssituation wieder an", sagt der Psychologe Horst Heidbrink im Wissenschaftsmagazin Spektrum. Das gegenseitige Vertrauen sei oft noch da, wenn man sich lediglich aus den Augen verloren habe.
Soziale Medien helfen, inaktive Freundschaften aufrecht zu erhalten
Während Zeiten der Inaktivität können auch die sozialen Medien dabei helfen, die Freundschaft zu konservieren. Eine kurze Reaktion auf die Instagram-Story eines Freundes oder einer Freundin, ein Like oder Kommentar, können signalisieren: Ich interessiere mich weiterhin für dein Leben. Ein Ersatz für tiefer gehenden Face-to-Face-Kontakt bietet diese Form der oberflächlichen, elektronischen Kommunikation zwar nicht – deswegen ist sie aber trotzdem nicht unbedeutend: Eine Studie, die während der Corona-Pandemie durchgeführt wurde, fand heraus, dass diese Form der elektronischen Kommunikation während der Isolation mit einem geringeren Maß an Einsamkeit, Angst und depressiven Symptomen verbunden war. Gerade in Krisenzeiten können inaktive Freundschaften also auch eine Bewältigungshilfe sein.
Vieles davon können natürlich auch neue, aktivere Freundschaften leisten, in denen es viel häufiger zum Austausch und zu Treffen kommt. Trotzdem kann es manchmal einfacher sein, von Menschen verstanden zu werden, die einen schon länger kennen. Und auch die aktiven Freundschaften können in ein paar Jahren wieder einschlummern. Vielleicht sollten wir also den Wert einer Freundschaft weniger an der Häufigkeit des Austauschs messen – sondern daran, was für ein Gefühl sie uns geben, wenn man sich trifft oder telefoniert. Und vielleicht ist gerade jetzt, nach dem Lockdown der Zeitpunkt gekommen, sich mal wieder bei der alten Schulfreundin mit einem "Hey, ich musste gerade an dich denken. Hast du übernächstes Wochenende Lust auf ein Treffen?" zu melden. Wer gerade noch nicht wieder dafür bereit ist: Auch okay – die Freundschaft läuft nicht davon.
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