Heile Welt oder grausame Realität? Wie viel Einblick man seinen Kindern in die düsteren Ecken unserer Gesellschaft gewährt, ist eine Frage, die viele Eltern beschäftigt. Kinderbuchautorin Stefanie Taschinski hat einen Weg gefunden, ehrlich mit den Kleinen zu sein.
Trigger-Warnung: In diesem Text geht es um sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt.
Es gibt Themen, denen selbst wir Erwachsene – wenn wir können – gerne mal aus dem Weg gehen. Sexueller Missbrauch gehört dazu. Wenn wir schon nicht darüber sprechen wollen, wie soll man dann einem Kind erklären, dass es Menschen gibt, die anderen Menschen so etwas antun? Sollte man die Kleinen überhaupt schon über solche schlimmen Dinge aufklären? Kinderbuchautorin Stefanie Taschinski findet: Ja. Und hat ein Bilderbuch verfasst, das die Geschichte des fünfjährigen Bruno erzählt.
Eine Geschichte, die unter die Haut geht
Bruno ist ein kleiner aufgeweckter Kater – bis Taube, befreundet mit seinen Eltern, ihn auf dem Spielplatz beim Pipi machen beobachtet. Als Taube eines Tages auf ihn aufpasst, kommt es zum Äußersten: Taube umschließt ihn mit den Flügeln, überall sind Federn, es ist dicht und dunkel …
Stefanie Taschinski will mit "Bruno" (für Kinder ab vier Jahren, 15 € bei Dragonfly) Kinder über sexuellen Missbrauch aufklären, ihnen die Kraft geben, ihre eigenen Grenzen zu setzen, und sie dafür sensibilisieren, wahrzunehmen, wenn jemand diese Grenzen überschreitet. Wieso ihr das Thema so wichtig ist, erklärt die Autorin im Interview.
EMOTION: Wie kam es zu der Idee für das Bilderbuch?
Stefanie Taschinski: Das Thema brannte mir schon lange unter den Nägeln, weil es leider unsere Realität ist. Ich bin viel in Schulen unterwegs, lese dort vor und kenne die Statistiken: Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass in jeder Klasse ein bis zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Es ist ein Thema, das verstört und unangenehm ist. Als Kinderbuchautorin hatte ich das Gefühl, dass es ein Buch braucht, das Erwachsenen und Kindern hilft, ins Gespräch zu kommen.
Worauf hast du geachtet, um eine so düstere Geschichte kindgerecht zu erzählen?
Es war wichtig, dass eine Distanz zwischen dem Kind und der Erzählung geschaffen wird. Deswegen ist die Geschichte auch nicht aus der Ich-Perspektive erzählt und die meisten Bilder nicht ganzseitig, damit verhindert wird, dass man komplett eintaucht. Die Figuren sind Tiere, was auch nochmal einen Sicherheitsabstand erzeugt.
Wie kamst du auf die Figur der Taube?
Das kam intuitiv. Mir war es wichtig, dass der Täter oder die Täterin kein eindeutiges Geschlecht hat, denn mir geht es nicht darum, einen Generalverdacht gegen Männer oder Frauen zu erwecken.
Hast du keine Angst, dass das Bilderbuch auf Kinder auch verstörend wirken kann?
"Bruno" soll hereinführen in diese Dunkelheit, aber eben auch wieder heraus. Am Ende der Geschichte steht dieser Hoffnungsschimmer: Bruno ist sicher bei seinen Eltern und Taube wird ins All geschossen. Natürlich ist das Problem dadurch nicht wie ausradiert, aber letztendlich soll das Gefühl entstehen, dass sie das gemeinsam durchstehen, als Familie. Es ist aber auch sehr wichtig, dass die Kinder es nicht allein lesen oder sich die Bilder anschauen, sondern mit einer erwachsenen Person in einem sicheren Umfeld. Dann glaube ich, dass die Kinder, die diese schlimme Erfahrung glücklicherweise nicht gemacht haben, das mit einer gewissen Distanz wahrnehmen werden. Für die Kinder, die schon sexuellen Missbrauch erleben mussten, kann es eine Ermutigung sein, wie Bruno ein Bild zu malen oder sich einer erwachsenen Person anzuvertrauen.
Für das Bilderbuch hast du mit Kinderpsycholog:innen zusammengearbeitet, richtig?
Genau, das war mir wichtig, denn ich bin ja nun mal selbst keine Psychologin. Es war beruhigend, dann auch von Menschen vom Fach zu hören: Ja, das funktioniert so. Und ich habe das Buch von Erwachsenen und Kindern testlesen lassen. Die haben mir auch gespiegelt, dass es ein Text ist, der unter die Haut geht.
Wo siehst du Grenzen, wenn es um die Aufklärung von Kindern geht?
Ich glaube, es war richtig, die Missbrauchsszene nicht explizit zu zeigen, sondern mithilfe der Metapher der Dunkelfedern zu erzählen. Es hat so trotzdem etwas sehr Bedrückendes, aber geht nicht so weit, dass es traumatisiert. Ansonsten finde ich, dass es kaum Grenzen gibt. In den Kitas wird sehr gute Arbeit geleistet, wenn es um Aufklärung und sexualisierte Gewalt geht, da gibt es tolles Material, das die Verhalte klar benennt und erklärt. Letztendlich geht es ja darum, die Kinder zu stärken, ihnen klarzumachen, dass sie Nein sagen können, damit sie ein Gespür dafür bekommen, wo ihre Grenzen sind. Dafür muss man aber eben auch über diese Themen sprechen.
Hast du selbst Kinder?
Ja, zwei Töchter.
Wie ehrlich bist du mit ihnen?
Notlügen gibt es nicht. Ich versuche immer, alle Fragen zu beantworten, so gut ich kann. Als Mutter merke ich ja, wann es zu viel wird für mein Kind, wann es überfordert ist oder die Informationen nicht verarbeiten kann. Dann beende ich das Gespräch eben und führe es vielleicht an einem anderen Tag weiter. Es geht mir mit "Bruno" nicht darum, zu schocken, sondern Kindern einen sensiblen, aber auch ehrlichen Zugang zu diesem Thema zu ermöglichen.
Welche Tipps gibst du Eltern, die das Buch mit ihren Kindern lesen möchten?
"Bruno" ist keine Gute-Nacht-Geschichte. Vielleicht schaut man sich das gemeinsam an einem Nachmittag am Wochenende an, aber es ist auf jeden Fall ein Buch, das Zeit braucht, das man nicht unbedingt in einem Rutsch durchliest. Man sollte wirklich aufmerksam auf die Signale achten, die das Kind einem sendet: Will es wissen, wie es mit Bruno weitergeht? Oder ist es besser, eine Pause einzulegen? Man sollte sich darauf einlassen und auch den Mut haben, ins Gespräch zu gehen.
Wie reagierst du auf Eltern, die kritisieren, dass so ein düsteres Thema für so junge Kinder nicht geeignet ist?
Ihnen antworte ich, dass die traurige Realität ist, dass Missbrauch nicht erst passiert, wenn Kinder in die Schule kommen. Deswegen ist es ja so wichtig, auch schon mit Kindern im Kita-Alter darüber zu sprechen. Auch, um ihre Sinne zu schärfen, dass so etwas auch in ihrem nahen Umfeld passieren kann, mit Menschen, denen sie oder ihre Eltern eigentlich vertrauen.
Hast du denn Verständnis für diese Kritik?
Ich kann total verstehen, wenn Eltern ihre Kinder davor schützen wollen, dass die Realität nun mal oft sehr grausam ist. Deswegen verstehe ich "Bruno" nicht nur als Buch für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Uns ist es ja auch total unangenehm, über schlimme Dinge wie sexuellen Missbrauch zu sprechen, deswegen gehen wir diesen Themen gerne aus dem Weg, stecken den Kopf in den Sand. Dabei sollten wir eigentlich alles dafür tun, so etwas zu verhindern. Das Buch soll eine Ermutigung für Eltern sein: Schaut hin. Klärt auf. Unsere Kinder verdienen es, dass wir sie beschützen. Und je kleiner sie sind, desto mehr Schutz brauchen sie.
Hier findest du Hilfe:
Du oder jemand, den du kennst, ist von sexuellem Missbrauch oder sexualisierter Gewalt betroffen? Das N.I.N.A. e.V. Hilfetelefon bietet anonyme und kostenfreie Beratung und Hilfe an. Die Nummer 0800/2255530 ist an folgenden Tagen erreichbar: Montag, Mittwoch und Freitag von 9 bis 14 Uhr und Dienstag und Donnerstag von 15 bis 20 Uhr.
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