Franziska Rülke und ihr Leben können nicht so ganz begreifen, wie es passieren konnte, dass Tugenden wie Rücksicht, Geduld und Friedfertigkeit keinen hohen Wert mehr in unserer Gesellschaft zu haben scheinen. Also beschließen sie eine "Tugend für die Welt" Aktion zu starten.
"Sag mal, sind wir eigentlich die einzigen, die noch ein bisschen Anstand haben?", fragte mich mein Leben neulich, als wir mal wieder zur Rush Hour in der Stadt unterwegs waren. Niemand schien mehr Rücksicht zu nehmen, ständig wurden wir angerempelt, angepöbelt oder überrannt. Niemand entschuldigte sich. Keiner schaute uns an, jeder schien mit sich und der Frage beschäftigt zu sein, wie er auf dem schnellsten und kürzesten Weg zum Ziel kam, um jeden Preis. "Ja, schon komisch", sagte ich. "Die haben wohl alle ihre Tugenden zuhause gelassen. Vielleicht können wir ja ein paar besorgen und sie kostenlos verteilen, so als Akt der Barmherzigkeit" schlug ich vor. "Gute Idee", mein Leben war sofort einverstanden und so steuerten wir direkt das Kaufhaus der Tugenden an.
Rücksicht ist aus
Im Schaufenster hing nichts außer einem riesigen Schild "SALE!". Hinter der etwas mager bestückten Theke stand eine dicke Verkäuferin im gestreiften Kittel, an die ich mich freundlich wendete: "Guten Tag, ich nehme etwas Rücksicht." "Rücksicht ist aus.", maulte sie abgeklärt. "Wie?" fragte ich überrascht "aus?". "Ja, ausverkauft. Schon lange." "Und da kommt auch nichts nach?", wollte ich wissen. "Nee, ist nicht mehr gefragt. Selbstsucht können'se haben, is' grad frisch reingekommen." "Nein, danke", lehnte ich angewidert ab. Mein Leben blickte mich fassungslos an. "Wie sieht es denn mit anderen Tugenden so aus?" fragte ich, "Friedfertigkeit? Geduld? Demut?". Die Verkäuferin lächelte abschätzig: "Da finden'se vielleicht noch Restbestände im Antiquitätenhandel." "Und was ist mit Treue?", ich gab die Hoffnung nicht auf. "Treue nur auf Anfrage", die Antwort kam prompt. Mein Blick fiel auf die Auslage in der Theke: Hochmut, Neid, Wollust, Zorn. In ausreichenden Mengen.
Plötzlich trat ein fülliger Herr im Maßanzug neben mich. Er ignorierte mich komplett und gab ohne ein Anzeichen von Freundlichkeit seine Bestellung auf, ja er schaute die Verkäuferin nicht einmal an. "Ich nehm' 'was von der Habgier und ein bisschen Völlerei." Die Dame hinter der Theke schnitt ein großes Stück Habgier ab und stellte den Becher mit der Völlerei auf die Waage. "Darf's ein bisschen mehr sein?", fragte sie. Er machte eine gönnerhafte Handbewegung, die wohl als Zeichen zu deuten war, sie möge alles draufhauen.
Im Kaufhaus der Tugenden
Als er sein Päckchen genommen hatte, bemerkte die Verkäuferin meinen fassungslosen Blick und meinte: "Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Mildtätigkeit, Tapferkeit, Mäßigung. Will doch keiner mehr." "Haben Sie denn wenigstens noch ein bisschen Wohlwollen?", ich konnte doch nicht ohne eine Tugend wieder nach Hause gehen. "Ich glaub', da hab' ich noch was im Lager. Is' aber von gestern." "Das macht nichts", sagte ich hoffnungsvoll und freute mich, als sie mit einer Handvoll Wohlwollen wieder zurück kam. "Das hat schon eine leichte Kruste. Ich würd' Ihnen da etwas Preisnachlass gewähren." Während sie das Wohlwollen einpackte, fragte sie: "Kann ich ihnen vielleicht noch etwas Achtsamkeit anbieten? Ist im Angebot. Da haben wir gerade eine Promo-Aktion." Plötzlich mischte sich mein Leben ein: "Achtsamkeit ist eine egoistische Kuh. Das ist doch so pseudo-Einfühlungsvermögen, mit dem sich jetzt jeder Hipster schmückt. Dabei achten doch am Ende auch wieder alle nur auf sich." "Naja“, beschwichtigte ich, "richtig angewendet ist es besser als nichts. Für die ganz harten Fälle kann man da schon mal etwas mitnehmen." Also verließen wir mit Wohlwollen und einer Portion Achtsamkeit das Kaufhaus der Tugenden. Obwohl – eigentlich sollten sie es in Kaufhaus der Untugenden umbenennen bei dem Angebot.
"Und jetzt?" fragte mein Leben. "Jetzt basteln wir Tugend-Säckchen", antwortete ich. "Aber wir haben doch noch immer keine Rücksicht.", gab mein Leben zu bedenken. "Keine Sorge", sagte ich, "die importieren wir. In Kanada haben sie riesige Vorräte davon. Stell dir vor, die Leute da stellen sich vor Bussen und Bahnen an und steigen ohne Ellenbogeneinsatz der Reihe nach ein. Sie entschuldigen sich bereits, wenn sie einen noch nicht mal berührt haben. Und sie schauen sich gegenseitig an auf der Straße, oft mit einem Lächeln." Ich kam ins Schwärmen. "Das werden wir jetzt hier einführen. Fang du schon mal an, das Wohlwollen und die Achtsamkeit in kleine Stücke zu zerteilen, möglichst viele.", wies ich mein Leben an.
Im Schrank fand ich noch einen großen Brocken Nachgiebigkeit, von dem wir auch einige Portionen abteilten. Dann nahmen wir Mini-Jutesäckchen von alten Weihnachtskalendern, taten jeweils ein paar Krümel Wohlwollen, Achtsamkeit und Nachgiebigkeit hinein, dazu noch einen freundlichen Blick, ein "Entschuldigung" sowie ein "Dankeschön" und ein "Macht nichts", und, als das Paket mit der Rücksicht ankam, auch noch eine Prise davon. Die Säckchen verschnürten wir vorsichtig.
Die Mission: Tugend für die Welt
An einem Samstag machten wir uns auf in die Innenstadt. Unsere Mission "Tugend für die Welt" konnte beginnen. Heimlich steckten wir den Menschen unsere Tugend-Säckchen zu, in Jackentaschen, in Rucksäcke, in Handtäschchen. Von dort sollten sie ihre Wirkung entfalten. Dieser Tag ging als Welttugendtag in die Geschichte ein, zumindest in meine und wird nun jährlich mit demselben Ritual begangen. Und falls uns in der U-Bahn nun jemand einen freundlichen Blick zuwirft, dann wissen wir, der hat sicher ein Tugend-Säckchen in der Tasche.
Noch mehr von unserer Kolumnistin Franziska Rülke gibt es auf ihrem Blog zu lesen. Der heißt "Kontrolliertes Chaos" und ist hier zu finden: kontrollierteschaos.com. Und Sie können jetzt auch Fan auf Facebook von ihr werden.