Denken ist schlau. Denken wir zumindest. Denn wir haben das Gefühl, dass wir so uns selbst, andere und die Welt verstehen. Das stimmt auch – außer wenn wir in Denkfallen tappen. Wie wir da rauskommen und wozu ein bisschen Selbstbetrug gut ist
Denkfallen – ist es wirklich wahr? Oder findet es nur in meinem Kopf statt?
"Wir sind es gewohnt, unserer Wahrnehmung zu vertrauen, und deshalb glauben wir, was wir denken", sagt der Psychologieprofessor Wolfgang Hantel-Quitmann. Dass das aber nicht immer richtig ist und manchmal sogar Selbstbetrug, darüber hat er gerade ein Buch geschrieben. Viele von uns beschäftigen sich gerade damit, wie wir unser Mindset dazu bringen, unser Leben und unsere Gefühle zu verändern. Positives Denken oder Negatives Denken – unsere Einstellung übt enorme Kraft auf uns aus.
Professor Hantel-Quitmann, Sie fordern, wir sollen nicht alles glauben, was wir denken. Warum?
Die meisten Menschen halten ihr eigenes Denken einfach für natürlich oder sogar objektiv – was ein Trugschluss ist. Es wird von Zufällen, Selbsttäuschungen, Beschönigungen, Irrtümern und Irrationalem beeinflusst. Und nicht selten werden wir Opfer unseres Denkens.
Wie das?
Wir täuschen uns selbst, weil wir bestimmte Dinge glauben und andere nicht glauben wollen. Der Sinn unseres Denkens über uns ist vor allem, ein stabiles, freundliches Verhältnis zu uns selbst zu bewahren. Dafür denken wir uns dann gut, liebenswürdig, aufrichtig, erfolgreich und so weiter. Unsere frühen Erfahrungen prägen nicht nur unser Selbstkonzept, sondern damit auch alle weiteren Erfahrungen. Und manchmal denken wir immer wieder dasselbe, schlicht weil wir es so gewohnt sind.
Kann es nicht sein, dass wir etwas gelernt haben, woraus sich berechtigte Überzeugungen entwickelt haben?
Die Welt wird immer komplexer. Deshalb versuchen wir uns mit Überzeugungen das Leben zu erleichtern. Statt immer wieder alles neu zu überdenken, greifen wir auf alte Erfahrungen und einfache Erklärungen zurück. Die Gefahr besteht darin, dass ich die Realität nur noch durch die Brille meiner Überzeugungen wahrnehme. Es gibt die Redewendung: Dem Hammer ist alles Nagel. Das heißt, man stellt immer wieder das Gleiche fest, weil man die Überzeugungen schon in sich trägt.
Wann sind wir besonders anfällig dafür, uns zu täuschen?
Wenn es um die eigenen Absichten und die Erwartungen anderer geht. Die sind immer schwer einzuschätzen: Liebt er mich oder nicht? Will er Nähe oder lieber allein sein? Schreit mein Kind, weil es Hunger hat, Zuwendung braucht oder gewickelt werden muss? Hier brauchen wir das Denken als Orientierungshilfe für unsere Gefühle – und um uns in Beziehungen zu orientieren, insbesondere in intimen Beziehungen.
Wie hilft Denken an diesem Punkt?
Es geht darum, sich Gedanken um die Gedanken und Gefühle anderer zu machen. Also andere von innen und sich selbst von außen zu betrachten. Das nennen wir in der Psychologie Mentalisierung. Je besser uns das gelingt, desto mehr fühlen sich andere verstanden und desto besser werden wir selbst verstanden. Das ist übrigens die Voraussetzung für echte Intimität in Paarbeziehungen.
Geht es um Empathie?
Empathie ist durchaus wichtig; zumindest, wenn man nicht dabei verharrt, sich in den anderen einzufühlen. Sie können einem Trauernden nicht helfen, wenn Sie sich in dieselbe Trauer fallen lassen. Dafür müssen Sie zu sich selbst zurückkehren und über die Situation reflektieren, sonst führt Einfühlungsvermögen eher in die Hilflosigkeit. Mentalisierung meint noch etwas anderes: Die erste Erfahrung damit machen wir mit vier, viereinhalb Jahren. In dem Alter stellt ein Kind zum ersten Mal fest: Andere denken anders über mich, und ich habe andere Gedanken über andere als sie selbst. Das ist eine wesentliche Erfahrung, aus der sich langsam unser Selbstkonzept entwickelt, also ein Denkenüber sich selbst, in dem aber immer andere enthalten sind. Denn da schwingt stets die Frage mit: Werde ich so geliebt, wie ich bin?
Woran merke ich, dass ich gar nicht so bin, wie ich mich sehe? An den Reaktionen der anderen.
Wolfgang Hantel-Quitmann, PsychologieprofessorTweet
Ihr Buch heißt "Die Othello-Falle". Othello hatte offensichtlich nicht das Gefühl, dass seine Frau Desdemona ihn liebt, wie er ist. Er steigert sich in einen Eifersuchtswahn hinein und bringt erst sie und dann sich selbst um.
Die gängige Rezeption ist: Othello ist das Opfer einer Intrige geworden. Jago redet ihm ein, Desdemona habe eine Affäre. Aus psychologischer Sicht stellt sich aber vielmehr die Frage: Warum fällt er darauf herein? Er merkt, dass Jagos Geschichte nicht schlüssig ist. Doch aufgrund seiner Minderwertigkeitsgefühle und seines negativen Selbstkonzepts ist er überzeugt, seine Frau nicht verdient zu haben und dass es deshalb nicht lange dauern kann, bis sie ihn verlässt. Die Intrige konnte greifen, weil sie Othellos Denken über sich selbst entsprach.
Woran merke ich, dass ich mich in meinen Gedanken verrannt habe?
An den Reaktionen von anderen. Insbesondere wenn Menschen, die mir wichtig sind, häufig Dinge anders erleben als ich selbst, ist Alarm angesagt. Starke Gefühle, vor allem negative, sollte man unbedingt noch mal reflektieren, bevor man handelt. Ist meine Emotion berechtigt? Wie reagiere ich angemessen? Es kann sein, dass mein Gefühl berechtigt ist, die Reaktion darauf aber zu starke Folgen hat. Das gibt es häufig bei Liebesaffären. Das ist harte reflexive Arbeit. Wobei es schon toll ist, wenn man überhaupt den Gedanken zulässt, dass im eigenen Denken etwas falsch sein könnte. Das ist schon Teil einer Selbstreflexivität.
Brauche ich diesen Anstoß von außen?
Nein. Es kann gut sein, dass ein inneres Leiden den Anstoß gibt. Man kann ja genauso an sich selbst leiden wie an anderen. Häufig hängt das zusammen: Ich bin in meinen Beziehungen nicht zufrieden und auch nicht mit mir selbst. In meinen Therapien erlebe ich auch oft, dass Menschen ein negatives Denken über sich selbst aufrechterhalten, weil sie so jemandem, der ursprünglich schlecht über sie gedacht hat, recht geben. Das ist eine Form von Loyalität.
Zum Beispiel?
Wenn eine Frau ständig von ihrer Mutter zu hören bekommen hat, sie sei dumm, wird das Teil ihrer Selbstkonzepts. Das zu verändern bedeutet auch eine Konfrontation mit der Mutter oder mit dem inneren Bild von ihr. Sich von diesem Denken über sich selbst zu verabschieden, ist dann auch eine Anklage gegen die Mutter: Du hast mich zu dem Denken über mich selbst gebracht, und das war falsch. In mir steckt viel mehr, als du mir zugetraut hast. Dann ist man konfrontiert mit einer Aggression und muss damit erst mal klarkommen.
Selbstbetrug ist Psychohygiene
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Mit der eigenen Aggression? Oder mit der Aggression der Mutter
Sowohl als auch. Die Frau kann wütend werden auf ihre Mutter, sie kann aber auch wütend werden auf sich selbst, weil sie es plötzlich ärgert, dass sie dieses Denken übernommen hat.
Ein verinnerlichter Denkfehler?
Ja. Dafür gibt es viele Beispiele. Oft leiden Menschen an der Diskrepanz zwischen ihren Idealen und der Realität. So bleiben viele Singles lieber mit ihrem Liebesideal allein, als sich auf eine Beziehung einzulassen, die da nicht heranreicht.
Was ist der Unterschied zur Selbsttäuschung?
Die Selbsttäuschung hat oft etwas unbewusst Absichtliches, weil wir damit angstbesetzte Themen vermeiden. Jeder kennt seine ganz speziellen Schamthemen, seine Konfliktthemen und schwachen Seiten. Wir fühlen uns wohler, wenn wir uns vor anderen als jemand darstellen, der immer nur Gutes im Sinn hat. Aber so sind wir nicht. Dann fangen wir an, Gefühle zu zeigen, die wir eigentlich nicht haben, um die dahinterliegenden Gefühle zu schützen. Etwa wenn wir Neid empfinden, ein sozial wenig akzeptiertes Gefühl. Um meinen Neid zu verbergen, spiele ich vor, mich für den anderen zu freuen. Gespielte Gefühle und vorgetäuschtes Denken dienen dazu, mich vor meinen eigenen Untiefen zu schützen – und das hilft mir in Beziehungen zu sein. Der Selbstbetrug gehört zu unserer Psychohygiene.
Das heißt, wir täuschen uns und andere, um miteinander klarzukommen
Ja, nur so können wir mit manchen Fehlern, Defiziten, Problemen, Gehässigkeiten und Kleinlichkeiten einen Umgang finden. Die Wahrheit über uns selbst kann wirklich unangenehm sein. Wir brauchen aber ein positives Selbstbild, um liebens- und leistungsfähig zu sein. Sich selbst zu täuschen, ist letztlich eine Form der Angstbewältigung.
Und wenn ich mich trotzdem meiner Angst stellen würde?
Dann können Sie sie analysieren und oft in ihrer Wirkung entkräften. Das ist die Chance auf ein angstfreieres Leben.