Franziska Rülke berichtet über ihr Ankommen in der Mitte des Lebens und die dazugehörigen Sonnen- und Schattenseiten
"Sind wir etwa schon da?" fragt mein Leben und starrt auf das Schild am Ende meines 35. Geburtstags: "Willkommen in Mittelleben!" steht da in schnörkelloser Schrift. Und darunter: "Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt!"
Mitten im Leben angekommen
Jetzt sind wir schneller angekommen als erwartet. Diese Gegend zwischen 35 und 45 war immer irgendwie so weit weg. Das war das Land der Erwachsenen, die Hochebene der Gesetzten, jener Berufstätigen mit Familie, die wissen, wo sie hingehören. Bei denen jemals dazuzugehören, konnte man sich mit Mitte 20 nur schwer vorstellen. Aber plötzlich sind wir drin. Einfach so. Kein Türsteher. Keine Zollkontrolle. Keine Eignungsprüfung. "Na dann schauen wir uns doch mal um", sage ich motiviert und voller Entdeckerdrang. "Wie cool ist das denn", höre ich mein Leben rufen und sehe, wie es auf einer kleinen Anhöhe die Aussicht genießt: "Von hier aus kann man schon auf einiges zurückblicken, aber gleichzeitig hat man auch noch genügend Luft, um nach vorn zu schauen."
Das Leben formt mich wie ein Knethaufen
Im Gegensatz zur Kindheit und Jugend, wo wir immer nur dem nächsten Geburtstag entgegenfieberten und es nicht erwarten konnten, älter zu werden, sind wir jetzt an einem Punkt, an dem es Spaß macht, auch mal nach hinten zu gucken. Denn schließlich ist das, was nach vorn betrachtet nur ein leerer weißer Raum ist, im Rückblick eine Galerie voller Erinnerungen und Erfahrungen. Da stehen Objekte mit lustigen und traurigen Momenten, Bilder von Menschen, die uns begegnet sind und Skulpturen von Dingen, die wir geschaffen haben. Alles Sachen, die uns ausmachen. "Ich finde unsere Galerie ziemlich schön", muss ich gestehen. "Tja", erwidert mein Leben gönnerhaft wie ein erfolgreicher Kunstsammler, "ich habe mir auch sehr viel Mühe gegeben bei der Zusammenstellung." Dabei war mein Leben nicht nur Sammler, sondern auch Künstler. Es hat mich geformt wie einen Knethaufen. Jede Erfahrung hat eine Delle hinterlassen, und das Schöne ist, dass ich mittlerweile meine eigene Form erkennen kann, die Form meiner Persönlichkeit. "Jetzt bist du kein labberiger Knödel mehr", sagt mein Leben augenzwinkernd und knufft mich in die Seite. "Du hast jetzt eine Einstellung. Zu dir und zu mir."
Mein Leben hat mich geformt wie einen Knethaufen.
Franziska RülkeTweet
Die ruhigen Gewässer im Mittelleben
Es ist wahr, ich kann mittlerweile mit Bestimmtheit sagen, was ich will und was ich nicht will, kann einschätzen, was ich kann und was ich besser lassen sollte und schere mich nicht mehr wirklich darum, was andere von mir denken. "Ehrlichgesagt möchte ich nicht mehr 25 sein", überlege ich. Diese Wildwasserraftingtour brauche ich nicht noch einmal. Da scheinen mir die ruhigeren Gewässer in Mittelleben doch deutlich angenehmer. Die Sicht wird nicht mehr von Naivität verklärt und wir machen Erfahrungen viel bewusster. "Außerdem habe ich noch kein Schild gesehen, dass das hier eine spaßfreie Zone ist", stelle ich fest. "Im Gegenteil!" ruft mein Leben, "gerade weil uns nichts mehr peinlich ist, können wir ungehindert auch mal kindisch sein!" Und so tanzen wir barfuss und quiekend durch einen Brunnen, drücken unsere Nase von innen an das Fenster eines Cafés und freuen uns diebisch über die lachenden Passanten draußen, die uns bemerken. Das scheint eine ganz schöne Gegend zu sein, dieses Mittelleben.
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