Die Zeit der Lauten geht zu Ende. Davon ist Martin Wehrle überzeugt – trotz Donald Trump und der AfD. Sein neues Buch ist eine Streitschrift für die Introversion.
EMOTION.DE: Warum ist das Zeitalter der Ruhigen gekommen?
Weil die Lauten sich durch nicht eingehaltene Versprechen oft diskreditieren. Das liegt nicht zuletzt an den modernen Medien. Denn heute können wir die Spur eines Schwätzers, der viel verspricht und nichts einhält, nachvollziehen. Das war vorher nicht möglich, weil er immer, wenn er an einem neuen Ort war, ein neues Spiel beginnen konnte.
Taten statt Worte – ist es das, was die Introvertierten auszeichnet?Schauen Sie mal, wer die bekanntesten Wissenschaftler sind oder die bekanntesten Gründer! Ob Sie Bill Gates nehmen oder Warren Buffett – das sind ganz oft introvertierte Menschen, die die Erkenntnisse aus sich selbst heraus schöpfen, und die tatsächlich das, was sie anfangen auch zu Ende bringen, weil sie sich nicht so leicht ablenken lassen. Introvertierte suchen Ruhe, sind mehr bei sich, während Extrovertierte immer wieder Impulse von außen brauchen. Das hindert natürlich oft beim Arbeiten.
Wie passt da ein Donald Trump ins Bild?
Ein Donald Trump, der durch eine ganz große Klappe seine politische Macht erlangt hat, passt da insofern rein als dass wir eine Art von letztem Aufbäumen der Lauten haben. Auch in Deutschland kommen Populisten noch einmal groß zur Geltung, aber ich sage Ihnen eines: Der Trump hat sich ja schon sehr diskreditiert als er nach seiner Amtseinführung behauptet hat, es seien mehr Leute da gewesen als bei Obama. Da wurde ihm sofort nachgewiesen, dass das eine Lüge war. Ich gebe mein Wort darauf: Donald Trump wird spätestens am Ende seiner Amtszeit, wahrscheinlich auch noch früher, erledigt sein, weil seine leeren Versprechungen auffliegen werden.
Warum kommen in Ihrem Buch die Extrovertierten so schlecht weg?
Ich finde überhaupt nicht, dass sie schlecht wegkommen. In unserer ganzen Gesellschaft, egal ob Sie die Firmen oder die Politik nehmen – überall haben vor allem die Lauten das Sagen. Überall wird es gewürdigt, wenn Sie den Mund ganz weit aufreißen. Überall wird man mehr für versprochene als für erbrachte Leistung belohnt. Es ist ganz selbstverständlich, dass man zu Menschen sagt: "Sei doch nicht so schüchtern!" Oder: "Sag doch auch mal was!" Da fühlt sich der Angesprochene schon selbst im Unrecht. Ich finde es wichtig, da mal ein Gegensignal zu setzen. Natürlich leicht zugespitzt, weil es einfach eine hervorragende Eigenschaft ist, wenn man zurückhaltend ist.
Im Wort "Zurückhaltung" steckt eine große, gesunde Haltung drin.
Martin Wehrle, Autor von "Der Klügere denkt nach"Tweet
Könnte man das Gleiche nicht auch aus der Sicht der Lauten schreiben – also pro Extraversion?
Ein solches Buch wäre überflüssig, weil das ja der gesellschaftliche Standpunkt ist, den jeder kennt. Es wäre überhaupt nichts Neues zu sagen: "Melde Dich in Meetings zu Wort! Sei offensiv!" Das ist ja das, was gepredigt wird.
In den Vereinigten Staaten hält sich inzwischen jeder zweite Mensch für schüchtern. Das liegt aber nicht an den Menschen selbst, sondern an den gesellschaftlichen Maßstäben, die sich extrem verschoben haben. Wer heute nicht sein Privatestes nach außen kehrt und bei Facebook das frischgeborene Kind sofort ablichtet, der macht sich ja schon verdächtig. Das ist der Grund, dass ich gegen diesen Wahnsinn – denn ich sehe es als Wahnsinn – mit deutlichen Worten gegenanschreibe.
Aber schüchtern ist nicht unbedingt gleich introvertiert oder?
Überhaupt nicht. Ein introvertierter Mensch ist ein Mensch, der die Kraft aus sich selber schöpft. Wer testen möchte, ob er intro- oder extrovertiert ist, kann dies aufs einfachste Weise tun. Die Aufgabe lautet: "Wenn es Ihr Ziel wäre, sich zu erholen, würden Sie lieber auf eine Party mit ganz vielen Menschen gehen? Oder würden Sie lieber für sich alleine oder mit wenigen Freunden zusammen sein?" Wer sich für die Party entscheidet – der ist extrovertiert. Wer seinen Akku eher auflädt, wenn er allein oder im sehr kleinen Kreis ist – der ist introvertiert. Das ist der große Unterschied. Schüchtern ist eine Stufe deutlich darüber. Es bedeutet, dass jemand eine soziale Phobie hat, oder Angst bekommt, wenn er andere Menschen um sich hat. Das ist eine Form, die deutlich seltener ist als die Introversion.
Brauchen wir in der Gesellschaft nicht gerade beide Charaktere?Absolut, und das ist auch der Grund, warum ich mein Buch geschrieben habe, denn die Extrovertierten, die stehen ja überall ohnehin schon ganz vorne auf der Bühne. Für die muss man keine Plädoyers mehr halten – die haben die Bühne ja schon. Und weil ich der Meinung bin, dass wir beide brauchen, habe ich dieses Plädoyer für die Introvertierten geschrieben. Ich stelle Zurückhaltung als eine Charakterhaltung dar und zeige, dass Redlichkeit immer noch mehr wert ist als pausenloses Reden. Und natürlich ist es ganz wichtig, dass beide Temperamente, sich immer wieder ergänzen, befruchten und anregen.
Und was ist mit den Schwätzern?
Wir müssen jetzt einmal zwischen dem ganz normalen Extrovertierten und dem, der wirklich ein Großmaul und ein Schaumschläger ist, unterscheiden. Das sind die Typen, die ich in meinem Buch charakterisiere und anhand von Beispielen beschreibe. Mit denen wird sich der durchschnittliche Extrovertierte nicht identifizieren, sondern auch sagen: "Das sind Typen, die mir, zum Beispiel beim Meeting, ebenfalls die Schau stehlen. Denen muss man das Handwerk legen." Und das ist ein Anliegen von mir.
Wer heute nicht sein Privatestes nach außen kehrt und bei Facebook das frischgeborene Kind ablichtet, der macht sich ja schon verdächtig.
Martin Wehrle, Bestsellerautor und PersönlichkeitscoachTweet
Warum wird Introversion gerade im Arbeitsleben immer wieder zum Problem?
Zum Beispiel, weil wir Großraumbüros haben, wo es ganz normal ist, dass man jedes Geräusch der anderen mitbekommt. Introvertierte sind aber sehr viel geräuschempfindlicher als Extrovertierte. Außerdem, weil heutzutage eine Dienstleistungsgesellschaft vorherrscht, das heißt die Arbeit, die Sie leisten, kann man gar nicht mehr unbedingt anschauen. Wenn heute jemand ein Projekt betreut, ist es oft eine Sache der Rhetorik es als gelungen zu verkaufen. Wenn jemand nicht mitmachen kann oder will, weil er zurückhaltend oder auch etwas ehrlicher ist, dann ist er schnell der Buh-Mann und wird gnadenlos unterschätzt.
Zum Beispiel beim Vorstellungsgespräch...
Genau, Sie haben 45 Minuten Zeit, um Ihr ganzes Leben auf dem Punkt zu bringen, um sich zu verkaufen. Das sind natürlich Verhältnisse, in denen die mit der großen Klappe mehr punkten als die, die die Redlichkeit für sich in Anspruch nehmen.
Wie kann ich mich als ruhiger Mensch beim ersten Kennenlernen denn überhaupt gegen die Lauten durchsetzen?
Da gibt es ganz konkrete Rezepte, zum Beispiel: Introvertierte fühlen sich wohl, wenn sie Dinge richtig gut vorbereitet haben. Das heißt, bevor ich in ein Vorstellungsgespräch gehe, sollte ich mit Freunden oder mit einem Coach das Gespräch mehrfach durchspielen. Dann werde ich von Runde zu Runde etwas sicherer und merke, dass ich bestehen kann. Die zweite Möglichkeit ist, mir von meinen Freunden oder engen Arbeitskollegen Feedbacks geben zu lassen, sie einfach mal zu fragen: "Was findest Du an mir und meiner Arbeit so richtig gut?" Diese Feedbacks sammelt man ein, schaut sie sich vor dem Gespräch nochmal an und kann dann in den entscheidenden Situationen andere zitieren. Es ist viel weniger peinlich, die Meinung anderer wiederzugeben, als sich selbst pausenlos auf die Schulter zu klopfen.
Und wie kann ich meinen Argumenten in großen Runden Gehör verschaffen?
Da ist ebenfalls eine sehr gute Vorbereitung ganz wichtig. Wenn ich genau weiß, worum es geht, muss ich mich inhaltlich so gut vorbereiten, dass ich wirklich richtig Lust habe, das, was ich zu sagen habe, dann auch in dieser Runde zu sagen. Ein Beispiel: Die Teilnehmerin eines Meetings meldet sich gegen Ende zu Wort stellt eine Frage: "Ich hab' da was recherchiert über ein Unternehmen in Fernost, das vor einem ähnlichen Problem stand, aber eine Lösung gefunden hat, die den Umsatz um 18 Prozent gesteigert hat. Interessiert Euch das?" Diese letzte Frage hilft natürlich sehr. Denn, wenn das O.K. zum Weiterreden kommt, wird ihr eine Art Bühnenvorhang geöffnet.
Martin Wehrle ist Karriereberater, Persönlichkeitscoach und Bestsellerautor. Seine Laufbahn begann er als Journalist. Später gründete er die Karriereberater-Akademie und entwickelte die erste systematische Ausbildung für Karrierecoaches.
Sein bekanntestes Buch "Ich arbeite in einem Irrenhaus" stand 150 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste und verkaufte sich über 300.000-mal.