Psychologin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl ("Jeder ist beziehungsfähig") spricht im Interview mit EMOTION über frühe Prägungen, Beziehungsmuster und die Balance zwischen Freiheit und Bindung.
Stefanie Stahl: "Jeder ist beziehungsfähig"
Nähe und ein Gefühl der Zugehörigkeit, lieben und geliebt zu werden, danach sehnt sich fast jeder. Und trotzdem scheitern Beziehungen so oft, dass viele schon mal gedacht haben: Wieso gerate ich immer an die Beziehungsunfähigen? Und andere sich fragen, ob sie nicht selbst dazu gehören. Darüber haben wir mit der Psychologin Stefanie Stahl gesprochen. Ihr neues Buch hat den vielversprechenden Titel: "Jeder ist beziehungsfähig".
EMOTION: Frau Stefanie Stahl, der Blogger Michael Nast hat mit Lesungen aus seinem Buch "Generation Beziehungsunfähig" Hallen gefüllt. Die Phänomene, die er beschreibt, wie Unverbindlichkeit oder lieber bei Schwierigkeiten mal eben übers Smartphone wischen und sich jemand Neues suchen, kennen viele. Sind die Leute heute weniger beziehungsfähig?
Stefanie Stahl: Nast trifft offenbar ein Lebensgefühl. Aber die Studienlage sagt ganz klar: Die Menschen sind nicht beziehungsunfähiger als früher. Das gesellschaftliche Korsett ist nur viel loser. Es gibt heute mehr Möglichkeiten, Bindungsangst – ich will nicht sagen: auszuleben –, aber mit ihr zu leben.
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Gut, andersherum gefragt: Was macht denn Beziehungsfähigkeit aus? Die richtige Balance zwischen Nähe und Freiheit. Im Kern geht es um Bindung und Autonomie. Beides sind psychische Grundbedürfnisse. Bindung ist existenziell. Wenn am Anfang unseres Lebens keiner da ist, der sich an uns bindet, sterben wir. Ab da ist dann unsere Entwicklung darauf ausgelegt, einerseits weitere Bindungsfähigkeiten zu erwerben und andererseits immer autonomer zu werden, damit wir letztlich selbstständig leben können. Und bei dieser Entwicklung kann halt einiges schiefgehen, sodass es viele Menschen gibt, die nicht gut in Balance sind.
Und die sind dann doch nicht beziehungsfähig?
Die meisten wären bindungsfähig, wenn ihnen klar wäre, um was es geht.
Bindung ist existenziell. Wenn am Anfang unseres Lebens keiner da ist, der sich an uns bindet, sterben wir.
Stefanie Stahl, Psychologin und Bestseller-AutorinTweet
Nämlich?
Wenn die Balance gestört ist, gibt es zwei Richtungen: Bei den einen ist sie zugunsten der Autonomie gestört. Die flüchten vor Nähe, weil sie um ihre Autonomie ringen. In ihrem tiefsten Inneren haben sie das Gefühl: Ich kann mich nicht auf eine innige Beziehung einlassen, sonst verliere ich meine Freiheit.
Klingt eher nach einem männlichen Phänomen.
Das gibt es auf beiden Seiten, aber tatsächlich sind mehr Männer auf der autonomen Seite verankert und mehr Frauen auf der Bindungsseite.
Sind die Frauen da im Vorteil?
Das hört sich so bindungsfähig an. Nein, auch da ist die innere Balance gestört, nur diesmal zugunsten der Bindung. Diese Frauen – und es gibt auch Männer – haben das Gefühl: Ich darf auf keinen Fall allein sein. Dafür sind sie bereit, sich stark an den anderen anzupassen und alles Mögliche zu tun, damit sie dem Partner oder der Partnerin gefallen, um bloß nicht verlassen zu werden.
Frühe Prägungen können zu einer Bindungsstörung führen
Was bringt die Leute aus der Balance?
Es handelt sich fast immer um frühe Prägungen. Dass die Eltern einem vielleicht das Gefühl gegeben haben, man wird nur geliebt, wenn man bestimmte Leistungen erbringt. Oder dass sie nicht zugelassen haben, dass man selbstständig wird, weil sie überängstlich waren. Oder man durfte sich nicht abnabeln, weil sie selbst emotional abhängig waren, man eine Art Partnerersatz war. Das heißt gar nicht in jedem Fall, dass die Eltern das wirklich so meinten oder wollten.
Die armen Eltern. Immer schuld.
Es geht nicht darum, zu sagen, die Eltern sind schuld, sondern darum, zu verstehen, was mich geprägt hat. Denn so erleben wir später auch unsere Wirklichkeit. Es können auch Lehrer oder Mitschüler sein, die das Gefühl in einem auslösen: Ich bin nicht gut genug, so wie ich bin. Genau da muss man ansetzen.
Es geht nicht darum, zu sagen, die Eltern sind schuld, sondern darum, zu verstehen, was mich geprägt hat.
Stefanie Stahl, PsychologinTweet
Wie denn?
Indem man sich klarmacht: Das ist eine willkürliche Prägung, die gar nichts über meinen tatsächlichen Wert aussagt, sondern nur etwas darüber, was ich als Kind und Jugendlicher erlebt habe. Sich davon zu befreien, das kann man üben.
Das alte Beuteschema analysieren und durchbrechen
Es gibt Leute, die das Gefühl haben, immer an die Falschen zu geraten. Gibt es das: ständig Pech in der Liebe?
Man muss gucken, was war mein Anteil daran, dass die Beziehung gescheitert ist? Kann es sein, dass ich mich immer wieder auf eine bestimmte Art verhalte und dazu beitrage, dass ich verlassen werde? Suche ich mir unbewusst immer wieder Menschen aus, die selbst ein Bindungsproblem haben und nicht in der Lage sind, langfristig eine Beziehung einzugehen? Da muss man nach dem roten Faden schauen.
Also das eigene Beziehungsmuster analysieren?
Ja. Das ist nicht leicht, aber wenn man das macht, kann man bei der nächsten Verliebtheit genau hinsehen, um nicht auf das alte Beuteschema und die alten Neurosen hereinzufallen. Wenn man sich spontan zu jemandem hingezogen fühlt, lohnt es, innezuhalten und sich zu fragen: Ist das nicht genau der Typ, von dem ich besser die Finger lassen sollte? Da kann ein Verliebtheitsgefühl eine Empfehlung sein, schnell wegzulaufen.
Ein Verliebtheitsgefühl kann eine Empfehlung sein, schnell wegzulaufen
Stefanie StahlTweet
Warum haben oft gerade die Falschen so eine große Anziehungskraft? Wer autonom wirkt, strahlt eine gewisse Sexyness aus. Aber viele sind pseudounabhängig und bindungsängstlich.
Das Phänomen Bad Boy.
Es gibt nicht nur Frauen, die nicht müde werden, jemand Bindungsängstlichem hinterherzulaufen. Wir definieren unseren Selbstwert ja immer auch im Spiegel der anderen. Statt in so einem Fall zu dem richtigen Ergebnis zu kommen, dass Robert Bindungsangst hat, ist Julia überzeugt: Ich bin nicht gut genug, deswegen bindet er sich nicht an mich.
Julia und Robert aus Ihrem Buch.
Ja. Und Julias natürlicher Reflex ist: Den muss ich jetzt von mir überzeugen. Dem muss ich zeigen, dass ich doch genau die Richtige für ihn bin. Dieser Wunsch entsteht, um den eigenen Selbstwert zu stabilisieren. Das erlebe ich bei vielen, die jemandem hinterherjagen, der sich nicht auf sie einlässt.
"Jeder ist beziehungsfähig" von Stefanie Stahl, Kailash Verlag, 14,99 Euro
Wie kann man sich aus dieser Rolle befreien?
Man muss erkennen, dass es einem eigentlich darum geht, die Kontrolle über die Situation wiederzuerlangen. Sich nicht ausgeliefert zu fühlen. Tatsächlich wäre die beste Kontrolle, loszulassen.
Warum ist das so schwer?
Jeder von uns hat Schutzstrategien. Wer eher zu der angepassten, also der Bindungsseite tendiert, strebt oft nach Harmonie oder Perfektion. Diese Menschen tun ganz viel dafür, um in der Bindung zu bleiben, indem sie Konflikte vermeiden und sich die Dinge schönreden. Wären sie realistisch, müssten sie sich auseinandersetzen, Konflikte wagen, sich vielleicht sogar trennen, und das macht diesen Menschen echt Angst.
Schützen sich die Autonomen auch?
Da ist die Autonomie selbst die Schutzstrategie, weil sie Angst haben, verletzt und verlassen zu werden. Sie beschützen sich durch ein Übermaß an Kontrolle, grenzen sich immer wieder ab, indem sie kompromisslos ihr eigenes Ding machen und sich vor allem selbst vertrauen.
Kann das nicht Freiheitsliebe sein? Michael Nast hat in EMOTION gesagt, eine Beziehung sei ein Störfaktor, wenn man sein eigenes Ding machen wolle. Also sagten viele lieber: Sorry, liegt nicht an dir, ich bin beziehungsunfähig.
Das ist eine klassische Argumentation von Bindungsängstlichen, bei denen die Balance zugunsten der Autonomie gestört ist. Sie stecken in der Fehlwahrnehmung fest, dass Freiheit und Beziehung unvereinbar seien. Sie fürchten: Wenn ich will, dass du mich liebst, dann muss ich mich verbiegen und deine Erwartungen erfüllen. Und bleiben lieber unabhängig. Ihren Mangel an innerer Freiheit projizieren sie auf die Frau und sehen nur die Lösung: Ich muss weg von der Frau, dann bin ich wieder frei. Ein Entweder-oder-Gefühl, das durch die frühen Prägungen entsteht.
Autonome stecken in der Fehlwahrnehmung fest, dass Freiheit und Beziehung unvereinbar seien.
Stefanie StahlTweet
Bindungsunfähige mit Lösungsansätzen konfrontieren
Ich stelle mir vor, wie Julia zu Robert sagt: Ich habe da dieses Buch gelesen und sehe dieses Muster bei dir. Würde er da nicht erst recht dichtmachen?
Wahrscheinlich. Diese Menschen fühlen sich schnell manipuliert. Ihr Lieblingssatz ist: Ich brauche meinen Freiraum. Sie tun sich schwer, mit Erwartungen in der Partnerschaft umzugehen, und wenn die Frau jetzt auch noch will, dass er sich verändert, dann erst recht nicht.
Das heißt, das Einzige, was Julia tun kann, ist, bei sich selbst anzufangen, auch wenn es die Beziehung kostet?
Was heißt, wenn es die Beziehung kostet? Wenn man sich selbst weiterentwickelt, kann es sein, dass man klar erkennt, dass der andere nicht die letzte Cola in der Wüste ist. Dass es einfach jemand mit einer Bindungsstörung ist. Zu sagen, okay, das ist die Realität, und wenn ich ehrlich bin, wird der Typ sich niemals ändern, dann tut das zwar kurzfristig weh, macht aber den Weg frei, mit jemand anderem glücklich zu werden.
Kann man dennoch versuchen, einen Näheflüchter ins Boot zu holen? Man kann sagen, guck mal, ich habe das gelesen und erkenne dich darin wieder. Und wenn er dann sagt, lass mal sehen, dann wäre ein erster Schritt getan. Wenn Menschen, die sehr auf der autonomen Seite verankert sind, in sich hineinspüren, erkennen sie oft eine Angst, verletzt zu werden. Ihr Selbstschutz ist deshalb, sich an die Erwartungen der Partner anzupassen. Das fühlt sich aber wie Freiheitsverlust an, und deshalb verweigern sie sich trotzig genau diesen Erwartungen. Das ist ein gelerntes Kindheitsmuster: Die Liebe der Eltern war an zu viele Bedingungen geknüpft! Das kann man auflösen, indem man erkennt, dass es nicht in die heutige Realität gehört.
Was hilft, in die Balance zu kommen?
Wenn ich zu angepasst bin, muss ich meine autonome Seite mehr entwickeln, indem ich anfange, mich selbst wichtiger zu nehmen, und versuche, meine Gefühle und das, was ich will, stärker zu spüren. Und dann lerne ich zu argumentieren, mich abzugrenzen und auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn ich dagegen sehe: abgrenzen, mich selbst behaupten, mein eigenes Ding machen? Kann ich, mir fehlt genau das Gegenteil – dann muss ich meine Bindungsfähigkeiten trainieren.
Was wäre das?
Dem anderen zuzuhören, mich ihm zuzuwenden, vertrauen zu können und letztlich: mich einzulassen und ihn zu lieben. Jemand, der auf gesunde Weise autonom ist, der kann sich ganz gesund abgrenzen – und wer das kann, der kann sich auch unglaublich gut binden, denn Liebe und Freiheit gehören zusammen. Und das kann jeder, der das will, lernen.
Stefanie Stahl ist eine der führenden Expertinnen für Bindungsfragen und Bestsellerautorin.