Wir dachten, wir hätten durch #MeToo und #timesup schon so gut wie alles zum Thema sexuelle Belästigung gehört. Doch dann erzählte uns eine Frau, was ihr passiert, seit sie selbstständig ist – und auf Aufträge von Kunden angewiesen, von denen einige meinen, Sex gehöre ja wohl zum Service.
Was passiert ist
Tina Schmid (Name geändert), 39, hat sich vor 18 Monaten als Gastro-Beraterin in München selbstständig gemacht. Und fühlt sich seitdem wie Freiwild.
"Lass uns doch ein Date draus machen", sagte er, als wir den ersten Termin vereinbarten. Ich stutzte kurz über die Formulierung, aber in unserer Branche herrscht eben ein familiärer Umgangston. Er war ein potenzieller Kunde, es war ein schöner Auftrag. Wie ernst er seinen Spruch gemeint hatte, wurde mir erst klar, als wir beim ersten Treffen über ein mögliches Konzept sprachen und er plötzlich sagte: "Wenn wir uns jetzt beide ausziehen würden, könnten wir viel besser und offener miteinander reden." Ich stand auf und ging.
Während der Uni jobbte ich im Gastro-Bereich. In Küchen herrscht ein krasser Ton; mit sexistischen, dreisten Sprüchen kann ich umgehen. Einmal hatte ich einen Catering-Job in einem Jachtclub. Lauter mittelalte Männer, leicht angetrunken. Es dauerte nicht lange, bis mir der erste an den Hintern fasste. Als ich das der Veranstaltungsleiterin erzählte, sagte sie: "Das gehört zum Job." Ich nahm meine Schürze ab und ließ sie stehen: "Nicht mit mir."
Ich bin nicht empfindlich und nicht auf den Mund gefallen. Ich bin in einem patriarchal geführten Männerhaushalt groß geworden. Da habe ich früh gelernt, dass Frauen nicht gleich behandelt werden. Und dass ich gewisse Dinge im Moment an mir abprallen lassen muss, wenn ich mich langfristig durchsetzen möchte. Aber ich will kein Opfer sein. Die Rolle steht mir nicht und gefällt mir auch nicht. Deshalb hasse ich es, in solche Situationen gebracht zu werden.
Nur einige Monate nach dem Vorfall bei dem Kundengespräch sollte ich ein familiengeführtes Hotel beraten und fuhr für eine Übernachtung dorthin. Ich aß mit dem Hotelchef, seiner Frau und den Kindern zu Abend, später führte er mich durchs Haus. Dann driftete er ins Private ab: seine Ehe sei nicht mehr das Wahre, er habe so viel Lust auf neue Erfahrungen ... Es folgten Schilderungen aus seinem Tantra-Workshop. Ich lachte es weg, versuchte, das Thema zum Hotel zurückzuführen. Ohne Erfolg. "Du strahlst so viel Wärme aus, ich muss dich einfach mal berühren", sagte er im Weinkeller und versuchte, mich zu umarmen. Ich wand mich heraus und konterte mit einem ironischen Spruch. Ich bin nicht ängstlich, aber in dieser Nacht lag ich in dem Hotelzimmer wach und fragte mich, ob der Mann dreist genug wäre, den Generalschlüssel zu benutzen.
Es ist eine Ohnmacht, die in solchen Situationen entsteht. Man ist völlig hilflos. Wer rechnet denn damit, bei einem Business-Meeting angefasst zu werden? Der Übergriff nimmt dir jegliche Handlungschance: Als ernstzunehmende Geschäftspartnerin existierst du nicht mehr, nur noch als Sexobjekt. Ich musste mich entscheiden: Wehre ich mich nicht, muss ich mich auf monatelange Ausweichmanöver einlassen. Wehre ich mich, verliere ich (mindestens) diesen Kunden. Kann ich es mir leisten, den Job sausen zu lassen? In dem Wissen, dass er mich weiterbringen könnte, meine Miete bezahlt, gut für meine Vita ist? Nehme ich ein solches Verhalten dafür in Kauf? Ich hasste es, mir diese Fragen zu stellen, zögerte die Entscheidung länger hinaus, als mir lieb war – und habe den 250 000-Euro-Auftrag schließlich abgesagt. Männliche Freunde wischten meine Schilderungen so weg: "Na, du bist halt auch 'ne Schöne." Aber spurlos ging das nicht an mir vorbei.
In dem Coworking-Space, in dem ich arbeite, habe ich schnell erfahren, dass es anderen Gründerinnen ähnlich geht. Wir haben uns zusammengetan, um herauszufinden, wie man sich schützen kann. Wir fanden keine Anlaufstelle für solche Übergriffe. Dafür stets die gleichen Tipps: "Mach ein Rhetorikseminar. Einen Selbstverteidigungskurs. Lenke das Gespräch immer wieder auf das Business zurück." Wie soll ich bitte von Tantra auf neue Speisekarten umlenken? "Lerne, weniger emotional zu sein." Aber genau wegen meiner Empathie und Begeisterung bin ich gut in meinem Job. Soll ich wirklich eine Rolle spielen?
Als ich gebeten wurde, meine Geschichte hier zu teilen, war ich sofort dabei. Ich will, dass wir offen über Belästigung sprechen. Doch dann warnten mich Kolleginnen: "Wenn sich das rumspricht ..." Ich bekam Angst. Angst, Kunden zu verlieren. Ich bin erst 18 Monate selbstständig. Ich muss meine Firma schützen, meinen Lebensunterhalt sichern. Also erzähle ich das hier anonym."