Die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz wird von vielen Arbeitgebenden noch immer nicht ernst genug genommen. Dabei könnte es so leicht sein: Ein finnisches Startup macht es vor.
Julia von dem Knesebeck ist Growth Lead beim finnischen Start-Up Auntie. Auntie unterstützt Mitarbeitende bei Mental-Health-Themen wie Stress und Überarbeitung, die Programme werden per Videocall von ausgebildeten Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen durchgeführt. Julia von dem Knesebeck ist für diese Aufgabe von Berlin nach Helsinki gezogen.
EMOTION: Sie sind Expertin für Corporate Mental Well-Being - woran erkennt man die Mental Health Kultur eines Unternehmens?
Julia von dem Knesebeck: Die mentale Gesundheit von Mitarbeitenden ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus der Unternehmen, Führungskräfte und Personaler:innen gerückt – zum Glück. Als Teil der Unternehmenskultur wird dieses Thema mittlerweile proaktiv angegangen und das nicht ohne Grund. Denn die Unternehmenskultur ist ebenso wichtig für den Erfolg einer Organisation wie die Strategie und die Führung. Welche Rolle die Mental Health-Kultur darin spielt, ist vor allem durch die Kommunikation, nach innen und nach außen, erkennbar. Bei Mental Health-Fragen, im privaten wie im beruflichen Umfeld, geht es im ersten Schritt um die Schaffung eines Bewusstseins für dieses Thema und darum, Tabus abzubauen. Im nächsten Schritt kann man sich die konkreten Maßnahmen und Prozesse anschauen: Werden Seminare oder Workshops angeboten? Gibt es Gesprächsformate und Services, die das mentale Wohlbefinden der Mitarbeitenden fördern? Was wird dafür getan, ein positives Arbeitsklima zu schaffen und wie gut geht das Unternehmen auf die Mitarbeiter:innen ein und unterstützt sie bei Herausforderungen und Problemen?
Wie hängen Freude an der Arbeit und Stress für Sie zusammen? Je mehr Stress, desto weniger Freude? Oder ist es komplizierter?
Wäre es nicht schön, wenn es so einfach wäre? Nein, ein bisschen komplizierter ist es schon. Wichtig für mich ist zunächst die zentrale Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Stress. Im Fachjargon spricht man von Disstress (schlecht) und Eustress (gut). Die Unterscheidung zwischen den beiden Zuständen liegt vor allem in der eigenen Wahrnehmung. Eine gute Auslastung, die den eigenen Wirkungsbereich nicht übersteigt, ist durchaus positiv und kann sogar leistungsfähiger machen. Das merke ich bei mir selbst immer wieder. Wenn viel zu tun, aber noch alles schaffbar ist, dann habe ich sehr viel Freude an meiner Arbeit. Wenn die Anspannungszustände aber dauerhaft werden, sich nicht mehr mit Phasen der Entspannung abwechseln und dann irgendwann das Gefühl der Überforderung einsetzt, schlägt der gute ganz schnell in schlechten Stress um. Das ist meistens auch der Punkt, an dem die Freude an der Arbeit abnimmt. Dadurch sinkt nicht nur die Motivation und Leistungsfähigkeit, dauerhaft schlechter Stress kann krank machen. Deswegen sind Entspannungsphasen und Reflexion wichtige Werkzeuge, um sich die Freude an der Arbeit zu erhalten.
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Sie arbeiten für das finnische Start-Up Auntie, das Arbeitnehmenden bei Stress, Überforderung oder Überarbeitung Hilfe bietet - bezahlt von den Unternehmen. Was ist das Ziel für die Arbeitnehmenden?
Wir bieten den Arbeitnehmer:innen digitale Mental Wellbeing-Lösungen an. Der Service ist leicht zugänglich und unkompliziert - dabei dennoch sicher und anonym. Arbeitnehmende bekommen so schnell und einfach Unterstützung für herausfordernde Situationen. Obwohl all unsere Auntie Professionals staatlich zertifizierte Therapeut:innen sind, handelt es sich nicht um einen Ersatz für eine klassische Psychotherapie. Es ist ein Supportangebot, das hilft, bevor ein Problem diagnostizierbar wird. Ziel ist, mit dem Auntie Professional eigene Strategien zu entwickeln und lösungsorientiertes Handeln und Denken in Form von Kurzzeit-Interventionen zu fördern, die langfristig wirken. Die Liste der Vorteile, die für Arbeitnehmende wie auch Arbeitgeber entstehen, ist lang: eine höhere Produktivität, weniger Stress, eine bessere Life-Work-Balance, weniger krankheitsbedingte Ausfälle, etc.
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Wie können wir Freude zu einem zentralen Ziel von Arbeit machen?
Freude an der Arbeit ist ein sehr individuelles Ziel, auch wenn es eins ist, das immer wichtiger wird. Die Arbeit ist für viele nicht nur ein Mittel um Geld zu verdienen, sondern es soll auch einen Sinn erfüllen – sowohl in der Gesellschaft als auch für einen selbst, abgesehen davon, die eigenen Rechnungen zu bezahlen. Wenn das gegeben ist, ist Freude an der Arbeit leichter zu erreichen. Um Freude nun zu einem zentralen Ziel von Arbeit zu machen, sollte das Wohlbefinden der Mitarbeitenden ein Kernaspekt der Unternehmenskultur sein. Denn Freude an der Arbeit entsteht zu gleichen Teilen durch die inhaltliche Arbeit als auch durch das Umfeld, in dem diese Arbeit stattfindet. Die interessantesten Aufgaben sind kein Vergnügen, wenn ich sie in einem schlechten Arbeitsklima erfüllen muss. Dazu gehören schlechte Arbeitsbedingungen, eine negative Fehlerkultur oder wenn ich das Gefühl habe, im Unternehmen nicht ich selbst sein zu können. In einer guten Unternehmenskultur, in der nicht nur der wirtschaftliche Erfolg, sondern auch die Wertschätzung der Mitarbeiter:innen im Fokus steht, ist die Freude der Arbeitnehmer:innen an ihrer Arbeit direkt mitgedacht.
Sie schrieben neulich in einem Beitrag, dass Overachiever unsere Arbeitskultur prägen, also Menschen, die zwanghaft nach überdurchschnittlichen Leistungen streben. Bloomberg veröffentlichte im September eine Umfrage, nach der sich die Hälfte der us-amerikanischen Arbeitnehmenden als "Quiet Quitter" beschrieben ließe. Was wäre denn eine gesunde Mitte?
Zwischen den beiden Extremen gibt es sicherlich eine gesunde Mitte. Doch sollte man auch die beiden Arbeitnehmertypen nicht als per se schlecht abstempeln. Bei Overachievern ist die Gefahr der eigenen Überlastung oder der des Teams recht hoch. Dennoch sollte es weniger darum gehen, sie in ihrem Wesen komplett verändern zu wollen. Vielmehr sollte man ihnen das richtige (mentale) Werkzeug an die Hand geben, um ihr Potential voll auszuschöpfen - ohne sich selbst dauerhaft zu erschöpfen. Overachiever sind Leistungsträger:innen in Unternehmen und sollten als diese von Arbeitgebenden geschätzt, aber auch unterstützt und zur Not gebremst werden. Andersherum beschreibt das Phänomen der Quiet Quitter Arbeitnehmende, die nur Dienst nach Vorschrift machen. Grundsätzlich ist daran erstmal nichts auszusetzen: sie tun das, wofür sie bezahlt werden. Dort sollte man eher fragen, warum sie keine Motivation für die sprichwörtliche extra Meile haben. Wird vielleicht Mehrarbeit dauerhaft vorausgesetzt, ohne dass sie entsprechende Anerkennung und Dankbarkeit erfahren? Die letzten Jahre haben sowohl Arbeitnehmende als auch Unternehmen stark mitgenommen, Solidarität sollte in beide Richtungen gehen. Wieder ist der Schlüssel zu einer “gesunden Mitte” eine gute Unternehmenskultur. Dazu gehört eine gute Kommunikation auf Augenhöhe, auch über die Arbeitsbelastung. Zudem sollten Freiräume eingehalten werden, wie freie Tage und Feierabende. Weder sollten Overachiever dazu ermuntert werden, bis spät in die Nacht noch Mails zu beantworten, noch sollten von allen anderen gefordert werden, ihre Freizeit zu opfern, um dem nachzueifern. Wir alle brauchen Auszeiten und Entspannungsphasen, um uns zu regenerieren. Das ist wichtig für die mentale Gesundheit und ein wichtiger Garant für langfristigen Erfolg und ein motiviertes Team.
Was macht Ihnen Freude an Ihrer Arbeit?
In meiner Arbeit bei Auntie motiviert mich vor allem, dass ich meine professionelle Erfahrung für ein Thema einsetzen kann, welches sinnstiftend ist und die Welt ein kleines bisschen besser macht. Gemeinsam mit meinen wunderbaren Kolleg:innen setze ich mich dafür ein, das Stigma rund um die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz abzubauen. Es ist an der Zeit, oder? Dass Menschen, die in positiven Arbeitskulturen arbeiten, zufriedener, produktiver, gesünder sind, länger im Unternehmen bleiben und Arbeitgebende weniger kosten, sollte uns allen bewusst sein und uns in der täglichen Arbeit antreiben. Und doch besteht hier bei vielen Unternehmen leider noch Nachholbedarf. Wir freuen uns über jedes Gespräch mit motivierten Personaler:innen und jede Chance, die Arbeitskultur zum Positiven zu verändern. Für mich persönlich kommt noch hinzu, dass ich von Berlin nach Helsinki umgezogen bin, um meine Stelle bei Auntie anzutreten. Länger im Ausland zu leben und zu arbeiten, war schon immer ein großer Traum, der sich so endlich erfüllt hat. Natürlich ist auch in Finnland nicht alles perfekt, aber gerade in Bezug auf Life-Work-Balance wird hier vieles richtig gemacht. Und darüber hinaus kann ich, obwohl ich in der Hauptstadt lebe, nach der Arbeit in nur 10 Minuten am Meer oder mitten im Wald sein, um einfach mal abzuschalten und durchzuatmen.
Dieses Interview erschien zuerst im Working Women Newsletter. Jetzt kostenlos anmelden und keine News rund ums Jobtrends, New Work und Gründung verpassen!
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