Flex-Work kann die Arbeitswelt positiv verändern. Davon profitieren Frauen, Gesellschaft und Umwelt. Hier die besten Argumente, neue Modelle und die wichtige Botschaft: Das ist nicht nur für Bürojobs möglich...
Wie wollen wir in Zukunft arbeiten?
Wir befinden uns mitten im Wandel: Ein einfaches Zurück in die Arbeitswelt vor der Pandemie ist nicht mehr denkbar. Ein Pandemiemodus für immer ohne physische Kontakte nicht wünschenswert. Doch wie kann die Welt danach aussehen? Was erwarten Arbeitgeber:innen und was Arbeitnehmer:innen? Welche Möglichkeiten hat dieser Megaschub der Digitalisierung mit sich gebracht, welche Grenzen sind sichtbar geworden? Was bleibt für wen sinnvoll? Und: Wo erwarten uns Konflikte?
54 Prozent ziehen in Erwägung, ihren Job zu kündigen, wenn sie nicht flexibel arbeiten können.
EY, 2021Tweet
Mitten in diesem Prozess stecken fast alle Branchen. Nun gilt es Erfahrungen – gute wie schlechte – sachlich auszuwerten, die Chancen für unsere eigene und unser aller Zukunft zu erkennen und Antworten auf die Fragen zu finden. Für jede Branche ganz eigene. Und sogar auch für einzelne Arbeitnehmer:innen der gleichen Branche ganz unterschiedliche. Es geht also um: Flexibilität!
Unmögliches war möglich
Wie gravierend und umfassend diese Erfahrung des plötzlich Möglichen war, zeigen zahlreiche Beispiele: Die Otto Group hat etwa ihren Kundendienst, also das gesamte Callcenter, ins Homeoffice verlegt. Und auch im EMOTION Verlag wurden 18 Monate alle Magazine remote produziert. Ärzt:innen aus Praxen und Unikliniken boten über Portale wie DoctoLib Onlinesprechstunden an. Die Diana-Kliniken Bad Bevensen erproben seit der Pandemie auch für Ärzt:innen, Pflege- und therapeutisches Personal mehr Flexibilität. Mit Tablets und der entsprechenden Technik können seitdem Patientenberichte und Dokumentation auch von zu Hause aus erledigt werden. Pflegekräfte können Homeoffice-Tage für den Papierkram beantragen. Bereitschaftsdienste wurden sehr viel angenehmer, weil Ärzt:innen telemedizinisch konsultiert werden konnten und können.
Flex-Work bringt wirtschaftlichen Erfolg!
Und das alles meist durchaus wirtschaftlich erfolgreich: Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum hat Vertriebe in 777 Unternehmen qualitativ und quantitativ untersucht und festgestellt, dass 97 Prozent der Vertriebsziele im Jahr 2020 erreicht wurden, obwohl 89 Prozent der Unternehmen mindestens einen betrieblichen Lockdown miterlebt haben.
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Der Konflikt
Was sich vor der Pandemie schon anbahnte, hat sich während der weltweiten Lockdowns manifestiert: Immer mehr Arbeitnehmende möchten nicht mehr grundsätzlich an Standorte, an ihren physischen Arbeitsplatz gebunden sein. Die Zahl der Menschen, die sich flexiblere Arbeit wünschen, wächst: Eine Studie der DAK in Hessen zeigte:
58 Prozent aller Beschäftigten möchten zumindest die halbe Arbeitszeit im Homeoffice verbringen
DAK Hessen, 2021Tweet
Und in den meisten Büroberufen, aber auch vielen Produktions- und sogar Care-Berufen sind Veränderungen möglich. Einige Unternehmen ziehen mit. Doch auch die Gegenstimmen werden längst wieder lauter. Eine Umfrage von YouGov hat etwa ergeben, dass 21 Prozent der Männer, aber nur 16 Prozent der Frauen künftig die volle Freiheit haben werden, zu entscheiden, wann sie von wo aus arbeiten möchten. 25 Prozent der Frauen, aber nur 17 Prozent der Männer werden wieder dauerhaft aus dem Büro arbeiten müssen, schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Und in den USA wollten Unternehmen wie Amazon, Facebook und Uber Mitarbeitende bereits wieder im September 2020 ins Office holen. Nur die Gefahr der Delta-Variante hat diesen Plan auf Januar 2022 verschoben. Wie kann das sein?
David Solomon, CEO bei Goldman Sachs, beharrte etwa kürzlich:
(Homeoffice) ist nicht das New Normal. Es ist eine Abweichung, die wir so bald wie möglich korrigieren werden.
David Solomon, CEO bei Goldman SachsTweet
Und Apple-CEO Tim Cook sorgt sich vor allem um Innovationskraft: "Innovation ist nicht planbar. Es bedeutet, sich zufällig auf dem Flur zu treffen, Ideen hin und her zu spielen. Dafür muss man am selben Ort sein."
Umdenken
Die Stimmen der CEOs blenden dabei aus, dass die reale Erfahrung der erfolgreichen flexibleren Arbeit über Wochen, Monate, nun sogar fast Jahre, tatsächlich zu einem allgemeinen Mindshift vor allem bei Arbeitnehmer:innen geführt hat. Es sind eben nicht Anspruchshaltungen einzelner Mitarbeiter:innen. Laut einer neuen Umfrage der Prüfungs- und Beratungsorganisation EY unter 16.000 Mitarbeiter:innen in 16 Ländern würden 54 Prozent der Befragten in Erwägung ziehen, ihren Job nach der Krise zu kündigen, wenn ihnen keine Flexibilität in Bezug auf Arbeitsort und -zeit geboten wird. Die Studie zeigt Führungspersonal, Tech- und Finanzexpert:innen und Pflegekräfte ganz oben unter den Branchen, die Änderungen fordern. Am geduldigsten seien Babyboomer (kurz vor dem Rentenalter) und Menschen in Verwaltung und Bildung. Millennials wiederum kündigen schnell und haben keine Angst vor Jobwechseln. Attraktive Arbeitsprozesse und damit Flexibilität sind also seit Corona vor allem eines: Employer Branding und Recruiting Tools. Wer sie als Arbeitgeber:in nicht bieten kann, wird Schwierigkeiten bekommen, junge, motivierte Fachkräfte zu finden. Erst recht in Zeiten des Fachkräftemangels. Es ist also längst nicht mehr die Frage, ob Flexibilität bleibt, sondern wie!
Wer wagt den Reset und wie?
2025 will die Porsche AG nur noch Schreibtische für 60 Prozent der Büromitarbeiter vorhalten, schreibt das "Manager Magazin". Der Musik- streamingdienst Spotify habe im Februar 2021 "Working From Anywhere" eingeführt: Alle Angestellten sollen gemeinsam mit ihren Vorgesetzten flexibel über die passende Mischung aus Heim- und Büroarbeit entscheiden, bei Bedarf übernehme Spotify auch die Miete für Co-Working-Spaces. Beim deutschen digitalen Netzwerk Xing gilt seit September 2021 eine 50/50- Regel – also hybrid.
Die Angestellten erklären mich doch für verrückt, wenn ich sie jetzt wieder Vollzeit ins Büro hole!
Anjuli Mauer, Head of People and Culture FlaconiTweet
Das E-Commerce-Unternehmen Flaconi hat 2020 alle Verwaltungsmitarbeiter:innen von einem auf den anderen Tag ins Homeoffice geschickt. Dass alle schon einen Laptop besaßen, war dabei hilfreich. Aber die Logistik? Natürlich kann ein Versandhandel nicht aufhören, Päckchen zu verschicken. Head of People and Culture Anjuli Mauer erklärt: "Wir haben versucht, unseren Logistikangestellten anders entgegenzukommen. Wir haben sie bei Care-Pflichten bezahlt freigestellt und die Kosten für Notfallbetreuung übernommen." Eltern in der gesamten Belegschaft wurden mit 10 Tagen zusätzlichem Elternurlaub bedacht. Aber wie geht es dort nun mit den Bürokräften weiter? "Die Angestellten erklären mich doch für verrückt, wenn ich sie jetzt wieder Vollzeit ins Büro hole!", sagt Mauer. Deshalb hat sie mit und für Flaconi die "Traveller/Settler"- Lösung entwickelt. Die ist zum einen individuell, und zum anderen bremst sie Gegenstimmen wie die des Apple-CEOs aus: Gemeinsame Bürotage sind weiterhin vorgesehen.
Warum wir den Reset brauchen
Die Britin Elizabeth Uviebinené schreibt in ihrem Buch "The Reset" (Hodder Studio), wie wichtig es ist, Arbeit und Leben nicht getrennt voneinander, sondern das Zusammenspiel von Business, Gemeinschaft, Gesellschaft und der oder dem Einzelnen zu betrachten. Das hieße, dass es nicht nur um zufriedene Arbeitnehmer:innen geht, sondern wir auf der Schwelle sind in ein neues Arbeitszeitalter. Flexibilität etwa durch Remote Work kann dabei der Hebel sein, um große strukturelle und gesellschaftliche Probleme zu lösen. Aber wie?
Bei Channel 4, einem der größen britischen Broadcaster, sorgt Remote dafür, dass die Londoner Zentrale als solche aufgegeben wird. Der CEO setzt auf Hubs in kleinen Städten, damit der Sender mit Mitarbeitenden, divers in Ethnie, Gender und sozialem Background, die Demografie des ganzen Landes ansprechen kann.
Auch Peter Kalnbach, Berater der Diana-Klinik in Bad Bevensen, berichtet, dass es um mehr als zufriedene Mitarbeitende geht. Viele Pflegekräfte hatten sich bereits selbstständig gemacht, weil die Angestelltenlösungen nicht mit ihrem Leben vereinbar waren. Eine Entscheidung, die auch in anderen Branchen überproportional häufig von Frauen getroffen wird. Sie tauschen Sicherheit gegen Vereinbarkeit – keine nachhaltige Lösung für ein globales, systemisches Problem. Die digitalen Maßnahmen der Pandemie – Telemedizin, digitale Verwaltung im Homeoffice– können hier also den Pflexit (Ausstieg aus medizinischen Berufen) abfedern. Das heißt:
Flex-Work kann zu Arbeitsplätzen und Chancen für alle führen, nicht nur für einzelne Privilegierte.
Kristina AppelTweet
Und: Flex-Work kann nicht nur ohne wirtschaftlichen Schaden praktiziert werden, sondern teils sogar gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme lösen.
Flex-Work schützt Ressourcen
Flex-Work berührt politische Themen wie Wohnen, Verkehr, medizinische Versorgung im ländlichen Raum, Reisen, Fachkräftemangel, CO2- Ausstoß, Benachteiligungen von Müttern, Burnout-Erkrankungen und viele mehr, die teils auch ineinander verwoben sind. In Metropolen sind etwa Miet- und Kaufpreise unerschwinglich, der Arbeitsweg wird angesichts der wachsenden Lohnlücke für finanziell Benachteiligte immer länger und belastender, die Arbeitszeit von Eltern dadurch kürzer, weil Zeit für die Fahrt abgeht. Gleichzeitig kollabiert der Verkehr, Staus und vermehrter CO2-Ausstoß sind die Folgen. Bei hybrider Arbeit könnten viele Familien ihr Auto abschaffen. Manche Erkenntnis wurde bereits von vielen Firmen verinnerlicht: Nicht für jedes Meeting muss gereist, erst recht nicht geflogen werden. Der Versicherer Allianz will zukünftig die Hälfte aller Reisekosten einsparen.
Wie soll das genau gehen?
Für Flexibilität, es liegt in der Natur der Sache, gibt es kein Patentrezept. Lösungen sehen nicht überall gleich aus. Der Individualismus ist untrennbar mit Flex-Work verbunden. Der Silicon-Valley-Berater Alex Soojung-Kim Pang, Autor des Buches "Shorter", hat etwa über 100 Unternehmen weltweit untersucht, die eine Viertagewoche eingeführt haben. Was er branchenübergreifend beobachtete: gesündere, zufriedenere und treuere Arbeitnehmende. Die Viertagewoche kann besonders Arbeitnehmenden mit Abend- und Wochenendschichten viel Flexibilität liefern.
Flexibilität erfordert also auch Kommunikation: Bedürfnisse im Team abfragen und Bedürfnisse gegenüber den Chef:innen äußern. Bin ich etwa Settler oder Traveller? Noch sind Firmen wie Flaconi Pioniere. Aber ihre Konzepte können wir alle anbieten, vorschlagen oder einfordern. Ein Arbeitsvertrag, schreibt Uviebinené in ihrem Buch, sollte eine Einladung sein, sich für ein Unternehmen zu engagieren, keine Einwilligung zur Unterwerfung. Und Mitarbeitende wie Vorgesetzte müssen verstehen, dass Flex-Work nicht nur zum eigenen, sondern zum Vorteil aller beitragen kann.
Zum Weiterlesen:
Elizabeth Uviebinené: "The Reset: Ideas to Change How We Work and Live" (Englisch; Hodder Studio UK)
Alex Soojung-Kim Pang: "Shorter. Work Better, Smarter, and Less – Here’s How" (Englisch; Hachette)
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