Arbeit? Ja, aber bitte mit Purpose! Die Geschäftsführerin der NGO Viva con Agua erklärt, wie man beim Job-Megatrend erkennt, welche Unternehmen es damit ernst meinen und wie man dem eigenen Sinn auf die Spur kommt.
Carolin Stüdemann ist seit vier Jahren Geschäftsführende Vorständin des gemeinnützigen Vereins Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. , mit 28 Jahren wurde sie Geschäftsführerin. Mit Viva con Agua arbeitet sie daran, Menschen weltweit Zugang zu sauberen Trinkwasser zu beschaffen. Bis Ende Dezember können Menschen dabei beim digitalen Spendenmarathon Jingle Wells unterstützen und zu Weihnachten Spenden verschenken. Über ihre Arbeit spricht sie auch im Podcast "Kasia trifft…".
Was bedeutet Purpose für deine Arbeit als Geschäftsführerin von Viva con Agua?
Menschen brauchen einen Purpose, Teams und Organisationen wie Viva con Agua. Als Organisation setzen wir uns für den Zugang zu sauberem Trinkwasser weltweit ein. Neben dem Menschenrechts-Aspekt beziehen wir dabei auch die tiefere Ebene mit ein: Wasser als Lebenselement. Ohne Wasser gibt es kein Leben. Uns treibt an, ein tiefes Verständnis dafür zu wecken, dass Wasser das höchste Gut ist.
Und wie unterscheidet sich dieser Purpose von dem der Teams?
Es gibt Teams, die am Projektdesign und der Umsetzung der Wasserprojekte beteiligt sind, etwa in Südafrika, Uganda, Tansania. Für sie ist der Purpose konkret: Frauen können einen Beruf ausüben, weil sie nicht für die Wasserbeschaffung weite Wege zurücklegen müssen. Kinder können dauerhaft zur Schule gehen. Aber auch Teams wie IT oder Finanzen haben einen Purpose, in dem sie die Organisation befähigen. Ihr Ansporn ist zum Beispiel, die Prozesse möglichst schlank aufzustellen, sicherzustellen, dass alle in der Organisation Zugriff zu allen relevanten Informationen haben oder wie die Homepage so organisiert ist, dass alle, die sich für das Thema Wasser interessieren, schnell bei uns fündig werden. Alles steht im Zusammenhang mit dem Purpose der Gesamtorganisation.
Wie würdest du ihn beschreiben?
Die Vision ist: „Wasser für alle“, aber eben auch: „Alle für Wasser“. Wir glauben, dass wir dieses große Ziel nur erreichen, wenn wir gemeinschaftlich an einem Strang ziehen. Das schließt neben unserem hauptamtlichen Team das ehrenamtliche Netzwerk mit ein: Bundesweit engagieren sich knapp 10.000 Menschen, bringen ihre Zeit und Ideen ein und setzen eigene Aktionen um.
Warum ist "Wasser für alle" so wichtig?
Nur wenn sich viele Individuen einbringen, sind gesellschaftliche Veränderungen möglich. Wir sind der Überzeugung, dass die weltweite Wassersituation lösbar ist, wenn es eine große Gemeinschaft an Menschen gibt, die sich engagiert. Einerseits dafür, Wasser als Grundlage des Lebens zu schätzen und zu schützen, und andererseits sich gleichzeitig für den Zugang zu Wasser einzusetzen. Die Herausforderungen in diesem Feld sind zu groß, als dass diese von Einzelpersonen oder gar einzelnen Großspender:innen alleine gelöst werden können. Davon unberührt bleibt natürlich unsere große Freude und Dankbarkeit für möglichst großzügige Spenden – ebenso ein Beispiel für eine aktuell ganz konkrete Herausforderung, der wir uns mit vereinten Kräften stellen.
Ist der Begriff "Purpose" für dich persönlich wichtig?
Sinn ist für mich wichtig. Den habe ich immer gesucht und immer mehr im Außen. Mich hat das Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ des Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl sehr inspiriert. Er stellt nicht die Frage: „Was erwarte ich vom Leben?“, sondern dreht es um 180 Grad und fragt: „Was erwartet das Leben von mir?“ Diese Frage begleitet mich: Was kann ich mit meinen Kompetenzen, Netzwerken, persönlicher Motivation für andere Menschen, den Planeten, für die Gerechtigkeit erreichen? Und diese Sinngebung fällt immer wieder anders aus. Anfangs war es der Umweltschutz. Danach in der stationären Kinder- und Jugendarbeit ging es darum, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Jetzt ist das Thema Wasser. All die Projekte verbindet, dass ich gelungene Beziehungen ermöglichen möchte, Gemeinschaften befähigen möchte, sich für einen gesellschaftlichen Sinn einzusetzen. Das kann ich hier bei Viva con Agua alles. Alle Organisationen und Unternehmen im Netzwerk sind ein Zusammenschluss von Menschen, die miteinander in Beziehungen verbunden sind.
Einfach gedacht könnte man ja annehmen, Sinn ergibt sich bei einer NGO von alleine. Wie arbeitet man am Sinn?
Indem wir zum Beispiel Jahresziele formulieren. Für 2023 ist das ein tieferes Verständnis für alle Zusammenhänge rund um Wasser. Wir arbeiten inzwischen bereits seit 16 Jahren aktiv und sind in vielen Themen Expert:innen. Und wir wollen dieses Wissen immer wieder aktuell halten, auch für neue Ehrenamtliche, neue Hauptamtliche. Zum Beispiel in Bezug auf die Wassersituation in Deutschland. Wir verschmutzen Wasser, wir verbrauchen Wasser gedankenlos, der Grundwasserspiegel sinkt auch hier. Diese Gesamtzusammenhänge möchte ich noch stärker erklären.
Wie kommt man vom Wasserkreislauf zum Sinn?
Ich habe bemerkt, dass wir bei der Suche nach Sinn bei uns selbst beginnen sollten, bei der Frage, was ist mein Wertekontext. Und es hilft sehr, wenn wir darüber nachdenken, zu welchem Thema wir uns hingezogen fühlen, was uns beschäftigt. Wenn wir als Organisation stärker über die Themen und ihre Relevanz für alle kommunizieren, geben wir mehr Menschen die Möglichkeit, sich mit uns zu verbinden.
Wie blickst du darauf, dass viele Unternehmen, bis zu internationalen Konzernen, das Purpose Thema für sich entdecken?
Ich finde es gut, dass das ein Trend ist. Genau wie bei Nachhaltigkeit auch. Klar kann man auf Unternehmen als abstrakte Gebilde schauen, die jetzt alle auf dieses Purpose-Thema gehen. Oder man kann Unternehmen sehen als große Gruppe von Menschen. Und wenn diese Menschen angeregt werden, sich mit der Sinnfrage auseinander zu setzen, selbst von einem Konzern, der nicht von Nachhaltigkeit allein getrieben wird, bisher, dann passiert bereits in den Individuen ganz viel. Meine Hoffnung ist, dass wenn es dazu kommt, dass Menschen im Management ihre Handlungen überprüfen und Entscheidungen anders treffen. Wenn der alleinige Sinn Gewinnmaximierung ist und bleibt, dann höhlt sich das System aus, dann suchen sich Menschen andere Aufgaben.
Das ist ein optimistischer Blick…
Stimmt. Aber kein unkritischer: Natürlich wird Purpose auch benutzt als Marketing-Instrument. Es wird für Konsument:innen immer schwieriger zu differenzieren, wer wirklich Purpose-Ziele verfolgt und wer nur damit wirbt. Das gilt auch für NGOs. Deshalb ist Transparenz das Wichtigste für mich, klare Messkriterien, Wissenschaftlichkeit. Wenn etwa ein Unternehmen schreibt, sie seien CO2-neutral – wie messen sie das? Wie ist die Sozialbilanz, wie die Ökobilanz?
Ich habe in diesem Jahr den Begriff der Self-actualizing (wo)man gelernt. Damit bezeichnet man eine wachsende Gruppe an Menschen, die im Leben und Beruf vor allem Selbstverwirklichung suchen. Beziehen wir Purpose und Sinn im Job zu stark auf uns selbst?
Ich glaube, in dem Moment, wenn es nur um Selbstverwirklichung geht, geht es nicht um Sinn. Ich glaube, es ist eine Illusion, wenn wir denken, dass Erfolg, der außen sichtbar wird, bedeutet, dass wir unseren Sinn verfolgen. Sinn finden wir dann, wenn wir auf die Frage zurückgehen, was uns wirklich im tiefsten Inneren berührt. Ich glaube fest daran, dass wenn wir den Sinn finden, das Außen nicht mehr so wichtig ist. Was uns wirklich erfüllt, ist, wenn wir einen Unterschied machen. Das kann für eine Person sein, in der Pflege, für stabile Beziehungen. Wenn es uns gelingt, diese Frage innerhalb unserer Arbeitsstunden zu beantworten, ist das toll. Aber mit der Antwort „höher, schneller, weiter“ erfüllt sich kein Sinn.
Wie finden denn mehr Menschen zum Sinn?
Ich glaube, Menschen, die für sich einen Sinn identifiziert haben, können auch andere inspirieren. Hier geht es darum, gemeinsam ins Handeln zu kommen und dadurch andere mitzunehmen, zusammen etwas zu bewegen. Wir haben bei Viva con Agua oft erlebt, dass Menschen zu uns ins Netzwerk gekommen sind zunächst mit der Absicht, „Ich möchte gerne etwas tun“. Dann haben sie plötzlich Großes verändert. Das Gleiche gilt für Unternehmen. Am Anfang möchten sie etwas spenden, über ihr Engagement z.B. auf ihrer Website berichten und bekommen dann während unserer Zusammenarbeit ein globales Verständnis von Wasser als Menschenrecht. So entwickeln sich Unternehmen weiter und widmen sich ernsthaft dem Thema: sowohl durch interne Lösungen und konkrete Verbesserungen als auch in Form ihrer Unterstützung der Projektarbeit oder im Rahmen von Forschung zu Wasser.
Dieses Interview erschien zuerst im Working Women Newsletter. Jetzt kostenlos anmelden und keine News rund ums Jobtrends, New Work und Gründung verpassen!
Mehr Themen: