Werden die Schmerzen von Frauen und Männern unterschiedlich eingestuft? Unterscheidet sich die Schmerzbehandlung zwischen den Geschlechtern? Eine neue Studie bestätigt das.
„Geschlechtervorurteile bei der Einschätzung von Schmerz an anderen“. Etwa so lässt sich der Titel einer aktuellen Studie übersetzen. Etwas salopper gefragt: Werden die Schmerzen von Frauen und Männern unterschiedlich eingestuft? Und die Antwort ist: natürlich werden sie das. Die Quelle des Problems liegt wie so oft in unseren unbewussten Vorurteilen: dem 'Unconscious Bias'.
Frauen sind wehleidig
Wieder belegt eine Studie, dieses Mal durchgeführt von fünf Wissenschaftler:innen aus den USA, China und Frankreich, dass das Gros der Menschen glaubt, Frauen seien schmerzempfindlicher als Männer und neigen dazu, körperliche Schmerzen zu dramatisieren. Außerdem läge ihre Toleranzgrenze für Schmerzen deutlich tiefer als bei Männern. Das führt zwangsläufig dazu, dass Schmerzen bei Frauen von Außenstehenden regelmäßig trivialisiert werden. Männern hingegen wird zugeschrieben, dass sie wahrscheinlich stärkere Schmerzen haben, als man ihnen ansieht.
Paradox eigentlich, denn das steht im krassen Kontrast zu den geflügelten Wahrheiten, die besagen, dass Männer schlechte Kranke und äußerst wehleidig seien. Und natürlich fragt man sich, wie Frauen dann trotz vehementer Regelschmerzen oder Endometriose dem täglichen Leben nachgehen – oder die die Strapazen einer natürlichen Geburt durchstehen. Alles bloß Übertreibung? Wohl eher nicht.
Tradierte Rollenbilder schon im Kindesalter
Schon auf Spielplätzen kann man gut beobachten, wie sich tradierte Rollenbilder durchsetzen. Schlagen Mädchen sich die Knie auf oder fallen von der Schaukel, werden sie deutlich mehr umsorgt und getröstet als Jungs. Auch Eltern glauben offenbar, dass ihre Jungs mehr „wegstecken“ und ihre Mädchen ihrem Schmerz (auch verbal) stärker Ausdruck verleihen. Erfahrungen wie diese manifestieren sich in Kindern und Eltern gleichermaßen – und das zum Nachsehen der Frauen.
Studie zur Einschätzung von Schmerzen
Für die aktuelle Studie wurde nicht die Schmerzempfindlichkeit, sondern die Einschätzung von Schmerzen durch Dritte untersucht. Studienteilnehmer:innen bewerteten Videos von klar weiblich und männlich gelesenen Menschen auf zwei numerischen Skalen: "Wie stark schätzen sie den Schmerz der Patient:in ein?" und "Wie deutlich kommuniziert die Patient:in die Schmerzen?"
Im Vergleich zu den Aussagen der Patient:innen stuften sowohl männliche als auch weibliche Teilnehmer:innen die Schmerzen der Patientinnen höher, und die der Männer als tiefer ein, als die Patient:innen selbst. Dort, wo Patient:innen beider Geschlechter dasselbe Schmerzlevel angaben, wurde den Frauen ein höheres Schmerzlevel zugeschrieben als den Männern. Individuelle Charakteristika, die Sozialisierung durch Herkunft und Umfeld und das Alter sind ebenfalls Merkmale, die Einfluss darauf nehmen, wie wir die Schmerzen bei anderen einschätzen.
Warum ist das wichtig?
Schmerzempfinden ist sehr individuell. Nicht nur das Geschlecht, auch der kulturelle Hintergrund, soziales Umfeld und ganz persönliche Schmerzerfahrungen beeinflussen die Toleranz für Schmerzen bei jedem Menschen anders. Gerade bei Frauen ist auch der Zeitpunkt des Zyklus auschlaggebend für ihre gegenwärtige Schmerzempfindlichkeit.
"Wir müssen aufhören, Frauen abzuwimmeln und anfangen, sie zu retten."
Caroline Criado PerezTweet
In den Bereichen Pflege und Medizin, wo es um Leben und Tod geht, dürfen diese Unterschiede nicht zum Tragen kommen. Biases müssen hier immer wieder hinterfragt werden, damit teils schwerwiegende Fehler verhindert werden können. Immer wieder kommt Frauen nicht die Behandlung zugute, die sie brauchen, weil ihre (Schmerz-) Schilderungen nicht erstgenommen werden. Das trifft noch stärker zu, wenn es sich um nicht-weiße Frauen handelt. Eine traurige Wahrheit – und das nicht nur in den USA. Selbst Medizinerinnen oder weltbekannte Sportlerinnen wie Serena Williams werden mit den von ihnen geschilderten Symptomen nicht ernst genug genommen. Seit der US-Tennisstar fast an den Komplikationen einer Geburt verstorben wäre, setzt sie sich öffentlich für bessere medizinische Versorgung von (Schwarzen) Müttern aus. Es ist utopisch zu glauben, Menschen könnten sich vollständig von unbewussten Vorurteilen befreien. Trotzdem lohnt es sich, auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Wann gehen wir endlich gegen Genderbias vor?
Das wird nicht geschehen, solange Wissenschaftler immerzu dieselben Wahrheiten beweisen. Die Erfolgsautorin Caroline Criado Perez beschrieb schon 2018 in ihrem Buch "Unsichtbare Frauen" ausführlich, dass nicht nur die Schmerzen bei Frauen niedriger eingestuft werden, als die von Männern, sondern dass sie auch deutlich häufiger auf psychosomatische Ursachen zurückgeführt werden. Auch das bewahrheitet sich erneut in der aktuellen Studie: Im zweiten Teil der Befragung, in der es um die Behandlung der Schmerzen ihrer Patient:innen ging, gestanden die Proband:innen den Patientinnen weniger oft Schmerzmittel zu als den männlichen Patienten, dafür öfter Antidepressiva und Psychotherapie.
Auch diese Phänomene hat schon Criado Perez in ihrem Buch geschildert: Dabei, erklärt die britische Journalistin, gebe es neben den rein weiblichen Schmerzerkrankungen wie Regelschmerzen (Dysmenorrhoe) und Endometriose viele schmerzhafte Krankheitsbilder, die erwiesenermaßen häufiger bei Frauen auftreten: „Frauen haben eine fast doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit für das Reizdarmsyndrom und eine dreimal höhere für Migräne.“ Leider zeigen neue Studien, dass viele Frauen darüber hinaus noch resistenter gegenüber den gängigen Schmerzmitteln seien. Und: Frauen müssen meist wesentlich länger auf eine Schmerztherapie warten als Männer.
Was also tun?
Stellt sich die Frage: Warum beweisen wir immer wieder dieselben Missstände, anstelle sie zu beseitigen? Warum scheinen Medizin und Pflege auf diese Forschungsergebnisse nicht zu reagieren? Allzu oft ist eine Datenlücke das ausschlaggebende Problem: Ohne verlässliche, gendersegregierte Daten sehen sich weder Wissenschaft, noch Politik und Wirtschaft genötigt, aktiv zu werden. Im Fall von Schmerzempfinden und Schmerzbehandlung von Frauen brauchen wir jetzt aber keine neuen Studien zu alten Fragestellungen mehr. Was wir brauchen, sind Pflegepersonal und Mediziner:innen, die ihre eigenen Vorurteile immer wieder aktiv hinterfragen und neuen Generationen helfen, diese gar nicht erst zu manifestieren. Was wir brauchen, sind sytemische Veränderungen, die menschliche Biases weitestgehend minimieren. Mit den Worten von Criado Perez: „Wir müssen aufhören, Frauen abzuwimmeln und anfangen, sie zu retten.“
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