Können wir unsere Scham überwinden, um über Tabuthemen zu sprechen? Nein, sagt Psychologin Prof. Dr. Annette Kämmerer, aber das sei auch gar nicht das Ziel. Warum das Gefühl wichtig für uns ist und wie wir selbstbewusst damit umgehen, erklärt sie im Interview.
Prof. Dr. Annette Kämmerer ist emeritierte Psychologieprofessorin an der Universität Heidelberg. Zu ihren Forschungsgebieten zählen klinische Psychologie und Psychotherapie sowie moralische Gefühle wie Scham, Schuld und Neid. Zum Thema Scham hat sie zahlreiche Beiträge publiziert und Studien durchgeführt.
EMOTION: Was genau ist Scham?
Kämmerer: Scham ist ein Gefühl, das entsteht, wenn es zwischen dem realen Selbst und dem Selbst, das ich gerne wäre oder sein sollte, eine Diskrepanz gibt. Dann werde ich in der Gruppe, in der ich mich bewege, vielleicht nicht mehr als adäquate Teilnehmerin angesehen. Die Scham stellt also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe in Frage, sie ist ein emotionaler Indikator. Wenn ich mich schäme, zeige ich: Ich als Individuum habe etwas getan, die den Normen dieser Gruppe oder dem Idealbild, das sie von mir hat, nicht entspricht. Was die Gruppe von mir verlangt, habe ich nicht erfüllt.
Was ist das für eine Gruppe?
Das kann die Familie sein, die Schulklasse, die Peer Group, das Arbeitsteam, ein Freizeitverein, die Freund:innen, aber auch eine Gesellschaft oder ein ganzer Staat.
Ist es also auch immer kulturell, gesellschaftlich und sozial geprägt, wofür wir uns schämen?
Auf der einen Seite, ja. Auf der anderen Seite gehört das Schamgefühl aber zu den evolutionär sehr frühen Emotionen. Es ist schon früh in sozialen Gruppen entstanden. Menschen in unterschiedlichen Kulturkreisen schämen sich möglicherweise für unterschiedliche Dinge, weil wir verschieden sozialisiert werden, aber wir schämen uns alle. Niemand ist schamlos. Und an der Nacktheit oder anderen körperlichen Dingen erkennt man das gut. Die Scham ist ein universelles Gefühl.
Was genau ist ihre Funktion?
Sie schützt uns vor der Außenwelt. Und sie ist eine Signalgeberin, die uns sagt: "Hoppla, hier ist irgendwas falsch!" Das ist nicht nur gegenüber meiner Gruppe so, sondern auch vor mir selbst. Sie macht mir bewusst, wie ich mich verhalten möchte, denn die Normen unserer sozialen Gruppe internalisieren wir. Das sind Überzeugungen, die wir oft als angemessen und richtig ansehen, wir machen sie uns zu eigen, sie fließen in unser Weltbild ein. Dass wir nicht lügen sollen beispielsweise. Durch Erziehung oder christliche Prägung haben wir uns das so fest eingeprägt, dass wir davon überzeugt sind. Und wenn wir doch lügen, schämen wir uns dafür. Das Schamgefühl kann also auch etwas sein, das die innere Normdiskrepanz signalisiert. Da muss niemand von außen mit dem Finger auf uns zeigen.
Warum schämen wir uns denn für Krankheiten oder andere ganz natürliche Dinge?
Die Scham – und das macht das Gefühl so spannend – hat zwei Seiten: die körperliche und die soziale. Die körperliche Seite spielt bei Krankheiten eine Rolle. Das bedeutet, dass die Scham den Schutz den Intimen, des sehr Körpernahen darstellt. Das hat sicher auch etwas mit evolutionsbiologischen Entwicklungen zu tun, mit der Notwendigkeit des körperlichen Schutzes. Scham entsteht meist um das achte Lebensjahr herum und tritt in der Entwicklung jedes Kindes auf. Egal wie liberal ein Kind erzogen wurde, plötzlich entwickelt es dieses Gefühl, dass es manche Dinge lieber verbergen möchte, den Körper vielleicht nicht der Öffentlichkeit preisgeben möchte. Bei der Scham geht es immer um das Gefühl, bloßgestellt zu werden – bei der sozialen Komponente eher im übertragenen Sinne, aber bei der körperlichen wortwörtlich.
Über ein gebrochenes Bein oder eine Erkältung spreche ich aber schamlos?
Ja, für Krankheiten und Verletzungen, die den Intimbereich, Magen, Darm oder Blase betreffen, schämen wir uns eher als für andere. Je näher an Intimität, Sexualität und Ausscheidungsorganen, desto stärker ist das Gefühl. Intime Bereiche des Körpers sind den Blicken ja normalerweise entzogen. Wenn wir den Darm entleeren, gehen wir auch auf die Toilette, wo wir allein sind, und haben es nicht so gerne, dass andere uns dabei zugucken.
Warum kann es nicht das Ziel sein, die Scham zu überwinden?
Eben weil sie in erster Linie ein Schutz ist, für uns und unsere Intimität. Und oft ist es in meinen Augen auch so, dass die sozialen Normen, die eine Preisgabe der Intimität des Körpers fordern, gegen das angehen, was sich für uns natürlich anfühlt. Sagen wir, ein 16-jähriges Mädchen bewegt sich in seiner Peer Group, wo Sexualität, Nacktheit und ein lockerer Umgang mit dem eigenen Körper als Norm eine große Rolle spielen. Vielleicht fühlt sich dieses Mädchen wohl und definiert die eigene Norm neu. Vielleicht spürt es aber auch eine Diskrepanz: Entsprechen diese Normen meinem eigenen Empfinden? Meiner eigenen Vorstellung von Intimität? Da kann die Scham ein Warnsignal sein, dass man lieber auf sich selbst und den eigenen Körper hören sollte. Das Schamgefühl sollte man also ernstnehmen und als Teil von sich akzeptieren. Sozialer Gruppendruck geht oft dagegen an. Die Herausforderung ist, die eigene Individualität zu verteidigen und für sich selbst die richtige Balance herauszufinden.
Ein konkretes Beispiel: Ich habe eine Krankheit im Intimbereich, über die ich nicht einmal mit Ärzt:innen sprechen möchte. Dabei geht es um meine Gesundheit! Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit ich es dennoch anspreche?
Natürlich erfordert es eine gewisse Portion Mut. Aber ganz wichtig: Es braucht ein einfühlsames Gegenüber. Einen Arzt oder eine Ärztin, die um solche Mitteilungsnöte weiß, sie sensibel behandelt und die richtigen Worte dafür findet.
Themen wie psychische Erkrankungen oder Menstruation sprechen wir heute schon viel offener an, ob auf Social Media oder mit Freund:innen. Ist das eine geeignete Strategie, um ein bisschen offener mit diesen Dingen umzugehen?
Auf jeden Fall! Es geht ja nicht darum, das Schamgefühl auf Teufel komm raus zu verteidigen. Es geht darum, was ich vielleicht einmal ausprobieren kann – und zu merken, dass die Welt nicht untergeht. Wenn ich zum Beispiel erzähle, dass ich eine Geschlechtskrankheit habe, und die Horrorvorstellung, dass die anderen mich auslachen oder sich abwenden, tritt gar nicht ein, ist das auch eine wichtige Erfahrung.
Inwiefern hängt das Schamgefühl da mit Selbstbewusstsein und Selbstliebe zusammen?
Selbstbewusstsein und Selbstliebe sind immer Phänomene, die die eigene Person stärken, auch unabhängig von Schamgefühlen. Ein Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, sich achtet und auch die Grenzen der eigenen Persönlichkeit kennt, wird mit vielen sozialen Situationen besser zurechtkommen als jemand, dessen Selbstwert extrem abhängig vom Urteil anderer Menschen ist. Letzterer wird einiges tun, um den Normen anderer zu genügen, und da ist die Gefahr, dass das gegen die eigene Schamgrenze stößt, irrwitzig hoch. Wenn ich aber diese innere Stärke habe, dass ich weiß, dass ich nicht Everybody’s Darling sein muss, dann bin ich besser in der Lage, vernünftig mit dem eigenen Schamgefühl umzugehen. Ich höre darauf und wäge ab: Mache ich es lieber nicht oder probiere ich etwas aus? Letztlich hat das ganze Thema Scham viel mit Vertrauen zu tun. Sowohl Vertrauen in das Gegenüber sowie des Gegenübers in dich, als auch Vertrauen in dich selbst, dass du mit gewissen Dingen so umgehst, wie es deinem Empfinden entspricht.
Wie können wir verinnerlichen, dass die Scham etwas Positives sein kann?
Indem wir uns ihre Funktionen immer wieder bewusst machen und erkennen, dass wir anhand der Scham viel über uns selbst und unsere Grenzen lernen. Sie darf kein Hindernis für unser Leben sein, denn wir wachsen eher an ihr und stärken unser Selbstvertrauen. Aber natürlich muss ich mich auch etwas trauen. Ich kann nicht schwimmen lernen, wenn ich mich schäme, ins Wasser zu springen. Und ich muss mich trauen, etwas zu äußern, wenn es zur Gefahr wird, es nicht zu tun, wie zum Beispiel mit Mediziner:innen über schambehaftete Krankheiten zu sprechen. Wenn ich den Kopf in den Sand stecke und sage, die Bauchschmerzen, die ich seit zwei Jahren habe, werden schon wieder weggehen – das ist schlecht.
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